Der Überläufer: Die heilige Pflicht

Heute sind wir in Europa weit entfernt von dem Trauma und den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs. Zuschauern ist Krieg nach Jahrzehnten des Friedens kaum wirklich nachvollziehbar. Die Siegfried Lenz Verfilmung „Der Überläufer“ erzählt davon, kämpfen zu müssen, wenn die Sache längst verloren ist; kämpfen zu müssen für eine Sache, an die man nicht glaubt. Der vom NDR produzierte Zweiteiler wurde unlängst in der ARD ausgestrahlt und ist nun zum 75. Jahrestag des offiziellen Endes des Zweiten Weltkriegs auf DVD und Blu-ray erschienen.

Im Jahr 1944 muss der Soldat Walter Proska (Jannis Niewöhner) zurück an die Ostfront. Unterwegs trifft er auf die schöne Polin Wanda (Malgorzata Mikolajczak), die in dem Transportzug kurz eine Mitfahrgelegenheit findet. Doch Walter kommt nicht bei seiner Einheit an. Kurz vor dem Ziel wird der Zug von polnischen Partisanen zum Entgleisen gebracht. Walter schließt sich mehr oder minder zwangsweise der Belegschaft des deutschen Streckenpostens an.

Unteroffizier Stehauf (Rainer Bock) führt ein sadistisches Regiment im Posten „Waldesruh“. Viel zu patrouillieren gibt es in den polnischen Sümpfen ohnehin nicht, während die Front immer näher rückt. Walters Kamerad Wolfgang Kürschner (Sebastian Urzendowsky) hat bereits resigniert und überlegt immer wieder, sich den Russen anzuschließen. Doch Walter kann sich nicht entschließen, die anderen Kameraden im Stich zu lassen. Dann trifft er Wanda wieder, die zu den polnischen Partisanen gehört, und für kurze Zeit bahnt sich eine unmögliche Romanze an. Doch die Rote Armee rückt immer weiter vor, und Walter gerät in Kriegsgefangenschaft. Um zu überleben könnte er sich der russischen Armee anschließen.

Ist der Patriotismus erst einmal entfacht, so kann der Einzelne sich schwerlich entziehen. Selbst wenn die Sache, für die der Soldat in den Kampf geschickt wird, nicht die eigene ist und auch nicht die eigene Überzeugung spiegelt, so gilt es doch als unehrenhaft die Seite zu wechseln. Das Überlaufen ist ein Verrat, so nicht nur für Walter, den jungen Helden in dieser dramatischen Filmerzählung, sondern auch für viele die mit deutschen Tugenden und preußischer Disziplin erzogen wurden; was auch immer das bedeuten mag.

Im Falschen das Richtige tun

Heute sind wir in Europa weit entfernt von dem Generationenprägenden Trauma des Zweiten Weltkriegs. Zuschauern ist es kaum wirklich nachvollziehbar, für sein Vaterland kämpfen zu müssen oder zu wollen. Sicher gibt es auch in unseren Zeiten überall auf der Welt kriegerische Auseinandersetzungen und es gibt Berufsheere, die diese Kämpfe ausfechten. Dennoch bleibt Krieg für viele eine abstrakte Situation.

Die Frage, warum Siegfried Lenz‘ eigentlich zweiter Roman, der die Grundlage für Florian Gallenberger TV-Mehrteiler bildet, erst posthum im Jahr 2016 aus dem Nachlass veröffentlicht wurde, wirft ein fast skandalöses Licht auf den deutschen Zeitgeist der Nachkriegsjahre. Man kann nur vermuten, ob der Verlag befürchtete, auf eine Welle der Empörung und Ablehnung zu stoßen oder als undeutsch verunglimpft zu werden, oder ob man seinerzeit nach vorne blicken wollte, nicht zur Aufarbeitung nach hinten. Diese Geisteshaltung ist und war weit verbreitet. Lasst uns doch aufhören in alten Wunden zu bohren! Es ist doch vorbei!

Der unveröffentlichte oder zurückgehaltene Roman?

Der Roman „Der Überläufer“ gilt als nicht vollständig zu Ende bearbeitet, ist aber mehr als nur Rohform, und war daher bei Veröffentlichung zu Recht eine kleine literarische Sensation. Selbst wenn der Autor zu Lebzeiten viel und sehr erfolgreich veröffentlicht hat. Diese Verfilmung ist durchaus gelungen und erfolgte in enger Abstimmung mit der Familie des verstorbenen Autors. Die war sicherlich auch notwendig, denn vor allem in der zweiten Hälfte weicht Florian Gallenbergers Drama erheblich von der Vorlage ab, pimpt sie gewissermaßen auf.

Die stärkere Ausformulierung der Polin Wanda ist eine erhebliche Eigenheit des Films. Der „Love Interest“ des Protagonisten wird aufgewertet, gleichermaßen um auch eine vielschichtige Frauenfigur zu haben wie deshalb, weil so ein bisschen Romanze heute immer als Gewürz dabei sein muss. Auch die Nachkriegszeit, die Walter Proska in der Sowietisch besetzten Zone verbringt, wird gegenüber dem Roman deutlich dramatischer ausformuliert. Das gelingt über weite Strecken gut, zeigt den Helden aber einmal mehr im Konflikt zu dem System, das ihn umgibt. Das ist bei aller Plausibilität auch wieder ein diskussionswürdiges Gleichsetzen der totalitären Systeme des Dritten Reiches und der Deutschen Demokratischen Republik.

Für mich ist dieses ewige Vergleichen inzwischen zur konsensualen TV-Folklore verkommen und behält nach wie vor ein westdeutsches Geschmäckle. Sicher hatte das Individuum in beiden Unrechtsstaaten unter Repressalien, Gleichschaltung und Überwachung zu leiden, aber die DDR hat nie einen Vernichtungsfeldzug gegen eine Volksgruppe geführt noch einen totalen Krieg zum Zwecke der Weltherrschaft ausgerufen. Insofern hätte man sicher auch anders thematisieren können, dass sich Walter Proska die Zukunft anders vorstellt als die Genossen.

Davon unbenommen bleiben die zum Teil starken Schauwerte der deutsch-polnischen Produktion und die erstklassige Besetzung. Die CGI-Elemente beim Zugunglück sind zwar „nur“ solide, aber die sumpfige Landschaft um den Streckenposten und auch die anderen Kulissen sind gut gewählt und von düster expressiver Natur. Stark ist auch die Kameraarbeit von Arthur Reinhardt. Der Pole hat bereits in Hollywood gearbeitet („Tristan & Isolde“) und die Blickführung seines Teams ist immer sehr nahe an der Perspektive der Hauptfigur, ohne dabei aufgesetzt zu wirken. Im Interview erwähnt Regisseur Florian Gallenberger („John Rabe“, „Colonia Dignidad“), das die Produktion sich bemüht hat, die vier unterschiedlichen Phasen des Mehrteilers auch in unterschiedlicher Stimmung und Lichtwirkung auszudifferenzieren. Das ist trefflich gelungen.

Die sommerliche Hitze in den polnischen Sümpfen verleiht der Absurdität des Krieges eine kongeniale Trostlosigkeit, die nahezu existentialistisch ist und mitten aus Becketts „Warten auf Godot“ entsprungen sein könnte. Das ist auch dem geniale aufspielenden Ensemble des Streckenpostens um Rainer Brock, Florian Lukas und Bjarne Mädel zu verdanken, die hier einen eigenen, selbstbezogenen Mikrokosmos zusammenklauben. Da kommt einem Jannis Niewöhners zweifelnder Antiheld Walter umso normaler vor. Ein bodenständiger deutscher Held, ein Überläufer.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Der Überläufer
OT: Der Überläufer
Genre: Drama, Historisches, Krieg,
Länge: 170 Minuten, D/PL, 2020
Regie: Florian Gallenberger
Vorlage: Roman „Der Überläufer“ von Siegfried Lenz
Darsteller: Jannis Niewöhner, Malgorzata Mikolajczak, Sebastian Urzendowsky
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Pandastorm
DVD- & BD-VÖ: 08.05.2020

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