Victoria: Im Taumel der Nacht

Ich hab es weder zum Kinostart 2015 noch zur Home Entertaiment Veröffentlichung geschafft, Sebastian Schippners „Victoria“ auf diesen Seiten vorzustellen. Nun strahlt der TV-Sender Arte den deutschen Film über eine höchst ungewöhnliche, nächtliche Bekanntschaft in Berlin heute am 03. Mai 2017 um 20:15 aus. Wer „Victoria“ bislang verpasst hat, hat nun die Gelegenheit einen der besten deutschen Filme der vergangenen Jahre zu sehen. Bitte nicht verwechseln mit der französischen Tragikomödie „Victoria – Männer und andere Missgeschicke“, die demnächst im kino anläuft. Die junge Spanierin Victoria (Laia Costa) tanzt in einem Berliner Techno-Club ihrem morgentlichen Schichtbeginn in einem Szene-Café entgegen. Als sie den Club verlässt, trifft sie auf vier Berliner Hallodris. Sonne (Frederick Lau),  Boxer (Franz Rogowski), Fuß (Max Mauff) und Blinker (Burat Yigit) wurden vom Türsteher nicht reingelassen und lungern herum. Aus bloßer Tollerei  bietet Sonne der Spanierin eine ganz spezielle Stadtführung an, schließlich könne man das wahre Berlin nur auf der Straße entdecken.

Victoria lässt sich überreden, doch relativ fix schwant ihr, dass die Jungs eine ganze Menge Blödsinn im Kopf haben. Die Bestandteile der Stadtführung sind also: Autos knacken, beim Spätkauf Bier klauen und auf einem Hochhausdach erstmal einen durchziehen. Allerdings haben die Jungs am frühen Morgen noch einen Termin: Wegen seiner Knastzeit ist Boxer einem gewissen Andi (André Hennicke) noch was schuldig und der fordert den Gefallen nun ein. Die Ansage lautete allerdings, dass die Jungs da zu viert auflaufen. Doch Fuß hat sich dermaßen abgeschossen, dass er zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Kurzerhand springt Victoria ein, die – genau wie die Jungs –  nicht ahnt, dass Andi sie auf Bankraub schickt…

Schauspieler und Regisseur Sebastian Schippner („Drei“, „Absolute Giganten“) würde selbst nie im Leben auf Bankraub gehen, gerade das hat ihn an der Filmidee gereizt. Der Regisseur hat den Faden einfach mal weiter gesponnen und seinen großartigen Schauspielern so grob den Rahmen der Handlung mit auf den Weg gegeben. Daher erzählt „Victoria“ eigentlich weniger von dem Bruch als von einer zarten Romanze und dem Taumel einer Nacht. Das Besondere daran ist, dass die Kamera ist immer so dicht an den Figuren ist, als wäre man selbst mit dabei. Das liegt auch daran, dass der über weite Strecken improvisierte Film in einem Take aufgenommen wurde.

„Victoria“  ist also ohne einen einzigen Schnitt und in Echtzeit entstanden. Die Schauspieler hatten eher Anweisungen und einen groben Abriss der Handlung als ausformulierte Dialoge  und Kameramann Sturla Brandth Grøvlen ist immer mit dabei. Es ist schon eine Meisterleistung die 140 Filmminuten mit nur einer Kameraeinstellung und am Stück zu drehen. Insgesamt wurden drei komplette Durchläufe gedreht, also sind eigentlich drei Versionen von „Viktoria“ entstanden. Laut Sebastian Schippner wurde der beste in die Kinos geschickt.

Was es für einen Film bedeutet, auf eine Schnittfolge zu verzichten, wird in „Victoria“ schnell klar: Die Echtzeit der Kamerabeobachtung wirkt zwar authentisch, realistisch und sehr normal, erzeugt aber auch deutlich weniger Spannung als man das als Zuschauer kennt. Bei einem Filmprojekt wie „Victoria“ gilt es also die Dynamik mit anderen Mitteln zu erzeugen und auch konsequent bis zum Ende durchzuhalten.

Folglich spielt die Musik bei diesem Konzept eine wichtige Rolle. So wie „Victoria“ sich zu tanzbaren Beats den Blick aus dem Dunkel durch das diffus vernebelte Clublicht-Stakato bis in den Berliner Morgen sucht, setzt der kongeniale Soundtrack von Nils Frahm die Rahmen für die Veränderungen von Stimmungen und Situationen. Und einigermaßen überraschend wird aus einer jugendlichen Hommage an das Berliner Nachtleben ein hochspannender Thriller.

Ohne herausragende Darsteller, die auch ohne Drehbuch arbeiten können, wäre „Victoria“ allerdings nichts Großartiges geworden. So aber, tragen Laia Costa und Frederick Lau „Victoria“mit charmanter und souveräner Leichtigkeit, die sich auch von Sprachbarrieren nicht aus dem Tritt bringen lässt. Vitoria spricht kein Deutsch, Sonne radebrecht ein Englisch, das sich – ganz Berliner Schnauze – einen Teufel um Grammatik schert. Victoria ihrerseits ist eine selbstbewusste junge Frau, die zwar einsam aber auch neugierig genug ist, um sich auf den Schlawiner und Charmeur einzulassen. Das könnte man als klischeemäßige Rollenverteilung abtun, aber coole Chicks standen wohl schon immer auf bad Boys.

Sebastian Schippners „Victoria“ ist ein großartiger und erfrischend junger Film, der seinerzeit nicht nur bei der Berlinale 2015 viel Lob einheimste und etliche Filmpreise eingefahren hat. Eine hinreißende Ode an die Nacht, die Neugier, das Leben und die Stadt –Berlin. Wer fühlen will, warum die deutsche Hauptstadt momentan international so angesagt ist, kommt an „Victoria“ kaum vorbei. Dabei tritt die logistische Großleistung der Dreharbeiten in einem Take komplett in den Hintergrund der stimmungsvollen Geschichte. Eine Qualität, die „Victoria“ zu einem der besten deutschen Filme seit der Jahrtausendwende macht.

Film-Wertung:9 out of 10 stars (9 / 10)

Victoria
OT: Victoria
Genre: Drama, Romanze, Thriller
Länge: 139 Minuten, D, 2015
Regi: Sebastian Schippner
Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yigit, Max Mauff
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Wild Bunch / Universum
Kinostart: 11.06.2015
DVD- & BD-VÖ: 20.11.2015

Victoria bei Arte