Selbst wer mit dem Namen Katsushika Hokusai nicht viel anfangen kann, wird das bekannte Bild „Die große Welle von Kanagawa“ des japanischen Malers kennen. Hokusai war eigentlich nur eines der Psyeudonyme, unter denen der japanische Künstler, der von 1760 bis 1849 lebte, seine zahlreichen Arbeiten veröffentlichte. Auf indirekte Weise setzt der international mit Preisen überhäufte japanische Zeichentrickfilm „Miss Hokusai“ dem bekanntesten Künstler Japans ein filmisches Denkmal, den eigentlich steht dessen Tochter O-Ei im Mittelpunkt des historischen Animes, das zu schon jetzt zu den Glanztaten dieser Filmkunst gelten muss.
Im Jahr 1814 lebt der Künstler Katsushika Hokusai in Edo, der heutigen japanischen Hauptstadt Tokio, beinahe von der Hand in den Mund. Dabei wird er von seiner Tochter O-Ei unterstützt, die ebenfalls das Talent des Vaters besitzt und einen genauso eigenen Kopf. Die beiden leben in einem Atelier und gehen ganz in ihrer grafischen Kunst auf. O-Ei Mutter hat längst akzeptiert, dass ihr Gatte nur für seine Arbeit lebt. Dennoch irritiert es O-Ei immer wieder, dass der Vater seine jung, blinde Tochter O-Nao niemals besucht. Aber die junge Künstlerin muss sich nicht nur selbst einen Namen machen, sondern hat auch unterschiedliche Verehrer, aber vor allem malt und zeichnet O-Ei auch unter dem Namen ihres gefragten Vaters.
Vater und Tochter in Atelier-Gemeinschaft
Wieso viele japanische Zeichentrickfilme, basiert auch „Miss Hokusai“ auf einer Manga-Serie. Unter dem Titel „Sarusuberi“ hatte Mangaka Hinako Sughiura in den 1980ern das Leben und Werk des großen Meisters eingefangen und damit auch ein großen Panorama dieser Zeit geschaffen. Der Film „Miss Hokusai“ rückt die Rolle der Tochter O-ei in dem Mittelpunkt und erzählt so eher indirekt über den Künstler Hokusai. Stattdessen steht eine emanzipierte, junge Frau kurz davor, sich nicht nur als Künstlerin voll zu entfalten.
Auch wenn in der Kunstwelt durchaus umstritten ist, welchen Anteil O-Ei tatsächlich am Werk ihres berühmten Vaters hat, so wird grundsätzlich nicht in Frage gestellt, dass auch in dieser Kunstwerkstatt nicht alles von Meisterhand erledigt wurde. Ähnlich also, wie das auch in der Niederländischen Malerei gehandhabt wurde, etwa bei Rembrandt oder auch bei Hieronymus Bosch.
All das ist zwar intellektuell äußerst interessant, spielt in dem wunderbar komponierten Film allerdings eher eine nebengeordnete Rolle. Denn inmitten der detailfreudigen und liebevoll umgesetzten historischen Hintergründe, geht es vor allem um eine junge Frau in einer von Männern bestimmten Welt und dieser Ansatz ist durchaus emanzipatorisch und modern. Das hätte für ein hübsch anzuschauendes, historisches Anime durchaus gereicht. Aber „Miss Hokusai“ gelingt etwas, das deutlich darüber hinausgeht.
Coming of Age in Edo
Die Beschreibung einer künstlerischen Selbstfindung. Eine Entwicklung, die nicht nur auf möglichst exakte, naturalistische Wiedergabe ausgelegt ist, sondern der es darum geht das Wesen der Dinge zu erfassen. Egal, ob es sich dabei um harmonische Bildkompositionen, Geistererscheinungen oder die eigene Lebenserfahrung handelt, die das Werk beeinflusst. Dazu wird sowohl der eher klassische Stil des Animes als auch dessen Erzählrhythmus immer wieder aufgebrochen und andere Animationstechniken kommen zum Tragen. Egal ob Tuschezeichnungen zu leben beginnen, oder ob surreale Geisterwesen erwachen, mit außergewöhnlichen Umsetzungen gelingt es Regisseur Keiichi Hara („Summer Days with Coo“) die Erzählung spannend und abwechslungsreich zu halten.
Es wird behauptet, der Begriff „Manga“ für japanische Comics leite sich von Katsushika Hokusais Arbeitsmappen ab. Der aber hat nicht sequenziell erzählt, sondern Skizzen und Alltagssituationen des Stadtlebens und auch erotische Darstellungen in Mappen zusammengefasst, die sehr beliebt waren. Dennoch schlägt der Anime „Miss Hokusai“ auch die Brücke zur heutigen Comickunst, denn der Film arbeitet mit modernen Stilmitteln des Animes und Mangas. Rockmusik gehört ebenso dazu wie O-Eis niedlicher zugelaufener Hund, der im Film quasi das Vergehen der Zeit sichtbar macht, oder auch die gelegentlich albernen Nebenfiguren. Wen man so will erzählt „Miss Hokusai“ also nicht nur von der klassischen Kunst, sondern auch auf einer übergeordneten Ebene von der Comickunst.
Collector’s Edition
Die deutsche Synchronfassung kann man nur als gelungen betrachten, dennoch empfehle ich immer wieder gerne und nicht nur aus puristischem Pflichtempfinden, sich den Film im Original mit Untertiteln anzuschauen, weil die japanische Sprache und auch Mentalität so verschieden von der unsrigen sind, dass der Tonfall der Charaktere nur sehr schwer zu transportieren ist. Glücklicher Weise gibt einem die Home Entertainment – Veröffentlichung ja die Wahlmöglichkeit. Übrigens wird „Miss Hokusai“ von AV Visionen am 9. Dezember auch als Collector’s Edition in einer Holzbox veröffentlicht. Diese enthält ein sechsseitiges Digipack, Postkarten, umfangreiches Booklet, sowohl DVD als auch Blu-Ray und eine Bonus-DVD mit 120-minütigem Making of, 20minütigem Feature über die Austellung „Hokusai X Manga“ im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg und Interviews. Die normale DVD oder Blu-ray dagegen kommt ohne jede Extras daher.
Kein Wunder, dass „Miss Hokusai“, an dem mehr als 350 Animationskünstler und mehrere Studios gearbeitet haben, international mit Preisen überhäuft wurde. Der wunderbare Anime funktioniert auf deutlich mehr ebenen als es eine Realverfilmung je vermocht hätte, selbst mit ausuferndem CGI-Einsatz. „Miss Hokusai“ ist definitiv ein Highlight des Kinojahres 2016 und für Anime-Neueinsteiger ebenso geeignet wie für eingefleischte Fans japanischer Zeichenkunst. Ganz großes Kino!
Film-Wertung: (9 / 10)
Miss Hokusai
OT: Sarusuberi – Miss Hokusai ((百日紅)
Genre: Anime, Historisches, Biographie.
Länge: 90 Minuten, J, 2015
Regie: Keiichi Hara
Drehbuch: Miho Maruo
Manga-Serie: Hinako Sughiura: Sarusuberi (百日紅, 1983-1987)
FSK: ab 6 Jahren
Vertrieb: AV Visionen
Kinostart: 16.06.2016
DVD- & BD-VÖ: 28.10.2016