Living: Was vom Leben übrig bleibt

Im England der 1950er Jahre spielt Bill Nighy einen Bürokraten, der kurz vor dem Ruhestand erfährt, dass er todkrank ist. „Living – Einmal wirklich leben“ ist das sehenswerte und berührende Remake des Klassikers „Ikiru“ von Akira Kurosawa. Die Adaption basiert auf einem Drehbuch von Kazuho Ishiguro und folgt dem filmischen Original recht genau. Dennoch, oder gerade deshalb, ist „Living“ ebenso zeitlos wie sehenswert ausgefallen. Im Kino ab dem 18.Mai 2023.

Jeden Morgen wieder Pendeln die Regierungsangestellten mit demselben Zug zu ihrer Arbeit wie ihr Bürovorsteher Mister Williams (Bill Nighy). Niemals kommt einer auf die Idee, Konversation zu betreiben, oder gar mit Williams im selben Abteil zu fahren. Das kommt dem Neuen in der Abteilung für Bürgerbeschwerden, Peter Wakeling (Alex Sharp), schon arg mürrisch vor.

Überhaupt ist die Arbeit in der Behörde zwar eine krisensichere aber auch freudlose. Wakeling erhält zum Einstig die Aufgabe, eine Abordnung von Bürgerinnen zu begleiten, die auf einem verfallenen Gelände einen Kinderspielplatz errichten wollen. Die Damen sind in der Behörde bereits bekannt und Wakeling wird mit ihnen in bester Sisyphosmanier durch diverse Abteilungen geschickt, nur um am Ende unverrichteter Dinge wieder in der eigenen zu landen. Das Anliegen wandert in die Ablage.

Bürokratie gegen Bürger

Williams führt das Büro mit ruhiger Hand und wortkarger Ernsthaftigkeit. Zuhause teilt der Witwer, der kurz vor dem Ruhestand steht, das Haus mit seinem erwachsenen Sohn und dessen Ehefrau, die gerne mehr Raum hätte. Bei einem Arztbesuch aufgrund von Hustensymptomen erhält Williams eine niederschmetternde Diagnose und den Rat er möge seine Angelegenheiten in Ordnung bringen.

Daraufhin erscheint der pünktliche und korrekte Williams erstmal nicht mehr bei der Arbeit, sondern versucht sich zu Vergnügen und das Leben auszukosten. Bemerkt aber, dass er gar nicht weiß, wie das geht. Als er eine ehemalige Mitarbeiterin trifft, die inzwischen in der Gastronomie tätig ist, entwickelt sich zwischen den beiden eine Art von Freundschaft.

„Living“ ist in seiner Formalität beinahe parabelhaft und allein durch die indirekte Näherung an die Hauptfigur durch die Augen eines Neulings im Büro behält Williams lange eine Unnahbarkeit, die sich erst langsam öffnet. Das ruhige konstante Erzähltempo und die Unaufgeregtheit der Betrachtung entsprechen sowohl dem Wesen Williams als auch einer Erzähltradition, die ihre Charaktere respektiert und es gewohnt ist mit wenig emotionalem Ausdruck zu agieren.

Gegen Leerlauf und Stillstand

„Living“ ist ein Remake des Kurosawa-Klassikers „Ikiru“ von 1952. Die Handlung des Remakes und auch die Zeit in den 1950er Jahren wurden beibehalten, nur der Schauplatz wurde nach England verlegt. Allerdings trägt sicher auch das Drehbuch des Autors Kazuho Ishiguro dazu bei, der Neuverfilmung zu solcher Klasse zu verhelfen. Die Verfilmung von Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“ hat einen ähnlich in seinem Charakter und seiner Stellung gefangenen Protagonisten wie „Living“. Der deutsche Titelzusatz „Einmal wirklich leben“ ist auch der deutsche Verleihtitel von Kurosawas Original.

Man mag zu Neuverfilmungen stehen wie man will, aber es ist durchaus legitim, Werke neu zu interpretieren. Warum also nicht auch Filme? Zwar bleibt „Living“ in Tempo, Haltung und Ausrichtung dem inzwischen 70 Jahre alten Original treu, weiß aber dennoch etwas Eigenes hinzuzufügen. Allein die Entwicklung von Technik und Sehgewohnheiten des Publikums machen einen sensiblen Umgang mit den Themen des Films notwendig. Regisseur Oliver Hermanus führt dezent und kaum merklich durch die Geschichte und verzichtet auf jegliche Effekthascherei. So entsteht ein klassischer Look für einen modernen Filmklassiker.

„Living – Einmal wirklich leben“ ist ein Film der leisen Momente und der kleinen Gewinne. In melancholischer Herausforderung stellt sich die Hauptfigur dem eigenen Schicksal und der eigenen Lebensbilanz. Bill Nighy verführt mit seiner wortkargen Art und spielt gekonnt mit Understatement und Unnahbarkeit. Very british und darin auch sehr japanisch und somit ein stilvolles Remake, dass die Vorlage zu keiner Zeit aus dem Blick lässt. Großes Kino.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Living – Einmal wirklich leben
OT: Living
Genre: Drama
Länge: 102 Minuten, GB, 2022
Regie: Oliver Hermanus
Vorlage: Film „Ikiru“ (1952) von Akira Kurosawa
Darsteller:innen: Bill Nighy, Alex Sharp, Aimee Lou Wood
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Sony Pictures
Kinostart: 1.05.2023