Der japanische Film „Unsere kleine Schwester“ erzählt mit großer Leichtigkeit und zugleich erstaunlicher Tiefgründigkeit aus dem Zusammenleben von vier Schwestern einer Küstenstadt. Regisseur Hirokazu Kore-eda untersucht in seinem Werk eigentlich immer Familienkonstellationen, aber selten so lebensbejahend wie in dieser Verfilmung einer Manga-Serie. „Unsere kleine Schwester“ ist vielleicht einer der schönsten Filme des vergangenen Kinojahres und nun endlich auf DVD erschienen.
Die drei erwachsenen Schwestern Sachi (Haruka Ayase), Yosino (Masami Nagasawa), und Chika (Kaho) leben zusammen in ihrem Elternhaus in der japanischen Küstenstadt Kamakura. Zu ihren geschiedenen Eltern, die inzwischen fortgezogen sind, haben die Frauen kaum Kontakt. Als der Vater dann nach einer längeren Krankheit verstirbt fahren die Schwestern zur Trauerfeier. Bei der Beisetzung ihres insgesamt drei Mal verheirateten Vaterslernen sie ihre Halbschwester Suzu (Suzu Hirose) aus der zweiten Ehe ihres Vaters kennen, die nun allein bei ihrer Stiefmutter leben soll. Sachi, die älteste, spürt, dass die Suzu dort nicht gut aufgehoben ist und bietet dem Teenager an, zu den Schwestern zu ziehen und mit ihnen zu leben. Suzu nimmt die Einladung an und blüht in ihrer neu gewonnenen Familie auf.
Mit schöner Regelmäßigkeit räumt der japanische Filmmacher Hirokazu Kore-eda ((„Like Father, Like Son“, „Still Walking“, „Nobody Knows“) mit seinen Familiengeschichten internationale Filmpreise ab. Glücklicher Weise, denn sonst wäre dieser wunderbare Film wohl nicht auf den internationalen Markt gekommen. Auch „Unsere kleine Schwester“ war in Cannes 2015 für die Goldene Palme nominiert. „Unsere kleine Schwester“ (OT: Umimachi Diary“ übersetzt etwa „Tagebuch einer Kleinstadt“) basiert auf der gleichnamigen und in Japan sehr erfolgreichen Manga-Serie der Comic-Künstlerin Akimi Yoshida. Seit 2007 erzählt die Mangaka in „Umimachi Diary“ nicht nur vom Alltag der Schwestern, sondern auch vom alltäglichen Leben in einer Kleinstadt an der japanischen Küste. Genremäßig ist die Comic-Vorlage ein so genanntes Josei-Manga, das sich vornehmlich an junge weibliche Leser wendet. Aber der Film geht deutlich über das Genre hinaus und ist in seiner Familienthematik generationsübergreifend.
Die Schwestern- und Familienkonstellation des Films hat enormes dramatisches Potential, das Hirokazu Kore-eda auch zu nutzen weiß. Erstaunlich und ebenso einnehmend wie irritierend ist dabei die Leichtigkeit der Erzählung. Vieles wird in „Unsere kleine Schwester“ nicht gezeigt, erschließt sich aus knappen Dialogen oder wird zart angedeutet. In gewisser Hinsicht erinnert das auch an eine moderne Spielart eines Jane Austen Romans. Dabei ist „Unsere kleine Schwester“ nicht verharmlosend oder auf unbedingte Harmonie getrimmt, sondern auch ein großer, poetischer Film über Verluste und Leerstellen im Leben. Der Tod, der Verlust ist allgegenwärtig, aber selten zu sehen. Die Aussparung ist das dramaturgische Mittel, das dem Zuschauer viel Raum für eigene Gedanken und Assoziationen lässt.
Gerade diese Erzählweise verleiht dem Film seine lebenskluge Tiefe. Egal, ob es die in der Ferne lebende Mutter ist, eine sterbenskranke Imbiss-Besitzerin, oder der Verlust des Vaters selbst, die jungen Frauen haben einiges an emotionalen Problemen zu bewältigen. Durch die vier unterschiedlichen Charaktere gelingt es dem Film mit ruhigem Rhythmus und immer wechselnden Blickwinkeln, unterschiedliche Aspekte zu denselben Fragestellungen zu erschließen. Der beständige Fokuswechsel von schwesterlicher Kernzelle zu individuellen Wegen und zur kleinstädtischen Gemeinschaft, in der die Schwestern – jede auf ihre Weise – ein fester Bestandteil sind, macht „Unsere kleine Schwester“ zu einem kompositorischen Meisterwerk.
Sicher ist Regisseur Hirokazu Kore-eda vor allem ein starker Frauenfilm mit großen Darstellerinnen gelungen, „Unsere kleine Schwester“ allerdings darauf zu reduzieren, hieße, die lebendige Pracht zu verkennen. Denn neben wunderbaren Landschafts- und Stadtaufnahmen, die einmal etwas anderes zeigen, als immer nur Tokio, werden beinahe schleichend auch gesellschaftliche Veränderungen in Japan sichtbar. Kleinigkeiten, Details, die zeigen, wie sich in Japan Tradition und Modern, Werte und Wünsche verschieben.
„Unsere kleine Schwester“ ist in mehrerer Hinsicht ein Glücksfall von einem Film. Die Verfilmung einer Manga-Serie stellt zwar vier Schwestern in den Mittelpunkt einer Erzählung, geht aber weit über ein Familienstück hinaus. Regisseur Hirokazu Kore-eda gelingt es, aus der literarischen Vorlage einen großen, berührenden Familienfilm zu machen, und dem Zuschauer dennoch ein Gefühl optimistischer Beschwingtheit zu vermitteln.
Film-Wertung: (9 / 10)
Unsere kleine Schwester
OT: Umimachi Diary,
Genre: Drama, Komödie
Länge: 128 Minuten, J. 2015
Regie: Hirokazu Kore-eda
Manga-Vorlage: Yoshida Akimi
Darsteller: Ayase Haruka, Nagasawa Masami, Kaho, Hirose Suzu,
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Pandora, Alive
Kinostart: 17.12.2015
DVD-VÖ: 17.06.2016