Russ Kick (Hg.): The Graphic Canon – Band 2.

Schneller als mit dem großartigen Sammelwerk „The Graphic Canon“ kann man seine klassische literarische Bildung nicht aufpeppen. Aber darum geht es dem Herausgeber Russ Kick eigentlich überhaupt nicht; das ist ebenso ein erwünschter Nebeneffekt wie die Beschäftigung mit der  zeitgenössischen sequentiellen Kunst- oder einfacher mit Comics. Neben jeder Menge Spaß und toller Illustrationen schlägt der zweite Band des Grapic Canon, der im November beim Berliner Galiani Verlag auf Deutsch erschienen ist, den literaturhistorischen Bogen „Von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray“.

Russ Kick ist ein amerikanischer Autor und Herausgeber der irgendwann einmal seine Faszination für das Medium Comic entdeckt hat. Insbesondere als Interpretation und Zugang für klassische Literatur. Daraus entstand die Idee eine Anthologie herauszugeben, in der Illustratoren und Comickünstler sich bekannter Geschichten und Autoren annehmen. Zum Teil wurden die Arbeiten auch extra für den Graphic Canon“ in Auftrag gegeben. Als das mehrbändige Werk 2012 herauskam würde es in den USA  als kleine literarische Sensation gefeiert und wird seitdem weltweit aufgelegt. Dabei ist der Canon nichtstarr, sondern jede Länderausgabe kann nach Belieben Literatur und Comickünstler hinzufügen.

„Geschriebene Literatur zur Grundlage anderer Kunstformen zu machen hat eine lange Tradition.“ (Kick)

Der Galiano Verlag, bei dem der „Graphic Canon“ in Deutschland erscheint, hat davon lobenswerter Weise im Zweiten Band rege Gebrauch gemacht. Schmählicher Weise ist der erste Band bei Erscheinen im Jahr 2013 an mir vorbeigegangen. Aber das wird demnächst auf diesen Seiten nachgeholt. Darüber hinaus ist der editorische Aufwand der deutschen Ausgabe ziemlich hoch. Es geht schließlich nicht nur darum, angemessene Übersetzungen für die großteils englischsprachigen Werke zu finden. „Bei den Literaten durften unserer Meinung nach Autoren wie z. B. Johann Wolfgang von Goethe, E. T . A Hoffmann und Georg Büchner nicht fehlen, bei den Zeichnern wollten wir auch Künstler wie Rattelschneck, Flix, Kat Menschik, Martin Rowson, Alexandra Kardinar und Volker Schlecht dabeihaben. So wurde die deutsche Ausgabe dieses zweiten Bandes des Graphic Canon ein recht eigenständiges Buch.“ (Aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe). Aber genug der Vorrede.

Was erwartet den aufmerksamen Leser?

Der „Graphic Canon“ beinhaltet nicht einfach nur bunt-bebilderte Nacherzählungen von namhafter Literatur, sondern ganz eigenständige künstlerische Auseinandersetzungen. Das kann in Form einer einzelnen Illustration einer Schlüsselszene geschehen wie bei Kat Menschiks Beitrag zu John Clares „Der Käfer“, oder in der völligen Aneignung der eigentlichen Geschichte wie bei Martin Rowsons Sterne Adaption „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“. Beide Beiträge übrigens nicht im amerikanischen Original enthalten, das sich im zweiten Band auf das literarische 19. Jahrhundert beschränkt. Und da tummeln sich etliche Schwergewichte, sowohl auf literarischer Ebene wie auf Seiten der Comickünstler.

„Und jetzt ist es an der Zeit, dass die Comics – seit Will Eisner auch als »sequential art« bekannt – zeigen, was sie können.“ (Kick)

„Der Alte Seefahrer“, „Frankenstein“, „Oliver Twist“ und „Moby Dick“ stehen in feinen und auch lustigen Variationen neben Poes Werken, Dostojewski und Lewis Caroll. Auch Gedichte werden durch Graphiken lebendig gemacht, etwa Walt Whitman oder Percy Shellys „Ozymandias“. Viele Beiträge sind Auszuge aus umfangreicheren Adaptionen. Dabei ist es absolut unmöglich aus der Fülle des Materials Highlight herauszuheben. Vielleicht bis auf William Blakes „Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion“ das eigentlich auch das Konzept des Buches sprengt und Blakes eigene Illustrationen präsentiert.

Einige Beiträge mögen vordergründig spektakulärer wirken als andere. Manchmal aber braucht das Subversive ein bisschen Zeit, um seine Pracht zu entfalten. Die Einleitung zu Thoreaus Walden ist für den deutschen Leser vielleicht etwas zu ausführlich und überschwänglich ausgefallen, S. Clay Wilsons Illustrationen zu „Hänsel und Gretel“ könnte zu psychedelisch wirken, aber es ist gerade die völlige künstlerische Freiheit, die den „Graphic Canon“ so großartig und so einzigartig macht. Zudem sind die Register einfach vorbildlich: Alle Werke, Künstler und Autoren sind jeweils alphabetisch aufgeführt und leicht zu finden. Die Mitwirkenden werden zudem noch kurzbiografisch erfasst und die Werke selbst ebenso knapp und knackig zum Weiterlesen vorgestellt.

„Klassische Literatur ist aufregender, aktueller und subversiver, als viele glauben.“ (Kick)

Comics sind längst aus der Kinderstube abgehauen und haben sich als eigenständige Erzählform etabliert. Der „Graphic Canon Band 2“ zeigt das in unvergleichlicher Vielfalt. Dennoch sind Comics in Deutschland noch immer ein Nischenphänomen und werden gerne als belangloser Kinderkram abgetan. Mit dem „Graphic Canon – Von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray“ ist das schlicht nicht mehr möglich. Denn Kindern wird man mit den eigenwilligen und lebendigen Literaturadaptionen keinen Gefallen tun, diese Anthologie wendet sich an erwachsene Leser.

Herausgeber Russ Kick hat mit dem Graphic Canon in wahres Füllhorn der Comickunst zusammengestellt. Die deutsche Ausgabe ist recht eigenständig und hervorragend editiert ausgefallen. Weil im zweiten Band „Von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray“ die literarischen Vorlagen stilistisch moderner ist auch die illustrierende Adaption weniger Stilbruch und gibt Raum für fantastische visuelle Effekte. Der Graphic Canon“ ist eine Bereicherung, ja eine Notwendigkeit für jede Bibliothek.

Besser als Herausgeber Russ Kick in seinem Vorwort zum zweiten Band des Graphic Canons kann man dieses nicht zusammenfassen: „The Graphic Canon ist ein bilderreicher Wandteppich. Aber er ist auch einfach ein schmackhaftes Festmahl für Auge und Verstand. Lassen Sie es sich schmecken.“

Comic-Wertung: 10 out of 10 stars (10 / 10)

The Graphic Canon – Band 2. Von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray
Herausgeber: Russ Kick
ISBN: 978-3869710792
Verlag: Galiani, Berlin, vierfarbig,  380 Seiten,
VÖ: 12.11.2015

Zum Weiterlesen:
Graphic Canon 2 bei Galiani
Russ Kick Homepage (Englisch)
englischer Wikipedia-Eintrag zuim Graphic Canon
Graphic Canon Blog (Englisch)