Den meisten Menschen wird es nur schwerlich gelingen, sich vorzustellen, morgen aufzuwachen und die Musik ist verschwunden. Schließlich gehört die Beschallung so zu den Alltagsklängen, dass wir sie häufig kaum noch wahrnehmen. Und genau das ist der Ansatzpunkt des schottischen Musikers und Künstlers Bill Drummond, der sich mit seinem Chorprojekt The17 auf die Suche nach den Urformen der Musik macht. Der Schweizer Dokumentarfilmer Stefan Schwietert hat Drummond begleitet und so einen faszinierenden Musikfilm zu Wege gebracht, den man sich nicht entgehen lassen sollte, sofern man Gedankenspielen und kulturellen Forschungsreisen gegenüber aufgeschlossen ist.
Bill Drummond ist nicht der erste und wird auch nicht der letzte sein, der sich mit den Ursprüngen der Musik als Teil des Menschseins auseinandersetzt, aber seine Art, dies in künstlerische Performances zu packen ist mehr als nur faszinierend. Der ebenso charmante wie anarchische (und auch wenn der Film eine andere Präsenz vermittelt, uneitle) Bill Drummond hat ein imaginäres Chorprojekt ausgerufen und ist der Leiter des größten Chores der Welt. Sein Ensemble besteht ausschließlich aus ständig wechselnden Laien, aus Menschen, die er auf seinen Reisen trifft und die Lust haben, bei The17 mitzumachen. The17 führt so genannte Scores auf, Anweisungen, die ohne Noten und Partituren auskommen und häufig auf scheinbar schlichte Klangerlebnisse hinauslaufen und auch nur einmalig aufgeführt werden.
Im Mittelpunkt von „Imagine waking Up…“ stehen dabei einige größere Scores, die Drummond zusammenstellt. So etwa Score 318 „Consider“, bei dem er auf einem bestimmten Breitengrad gesungene Töne sammelt und diese dann später zusammenfügt und auf einer Insel einmalig aufführt. Oder Drummond performt mit einer Schulklasse oder in einem Stadtpark, wo die in festen Abständen aufgestellten Sänger einen repetitiven Kettengesang durch die Stadt klingen lassen. Diese musikalischen Performances sind extrem spannend und leben im Film auch von der charmanten Art Drummonds, der versucht Mitwirkende zu finden.
In der Musikwelt ist Bill Drummond kein Unbekannter, mit der Punkband Big in Japan startete er eine Musikkarriere. Der große Erfolg setzte ein, als er zusammen mit Jimmy Cauty sample-basierte Popmusik kreierte. Das Duo KLF hatte Ende der 1980er und anfang der Neunziger einige weltweite Nummer 1 Hits. Verweigerte sich dann aber der Musikindustrie und wurde vor allem bekannt, weil KLF öffentlich eine Millionen Pfund in Geldnoten verbrannten. Dafür wurde das Duo gehasst und geliebt und entfachte eine heftige Kontroverse. Selbstredend kommt auch diese Phase kurz in Stefan Schwieterts Film zur Sprache, da es nicht nur um das Chorprojekt geht, sondern auch um den Künstler Bill Drummond.
Und Drummond hat durchaus eine Mission, die sich immer wieder in künstlerischen und musikalischen Projekten äußert. Den Impuls für The17 bekam Drummond, weil er der Konsumierbarkeit und Verfügbarkeit von Musik in unserer digitalen Zeit überdrüssig war und sich so der Frage widmete, was Musik überhaupt ist und ausmacht. Das rhythmische Motorenbrummen seines Land Rovers während langer Fahrten durch die schottische Landschaft gab dann den Anstoß zu der archaischen und instrumentenlosen Musik von The17.
Wenn die Menschen morgen aufwachen würden und alle Musik und jedes Wissen darum wäre verschwunden, dann würde es nicht lange dauern und irgendjemand würde in den Klängen und Geräuschen der Natur und der Arbeitswelt Rhythmik finden und versuchen, diese zu reproduzieren, einfach damit die Arbeit leichter von der Hand geht. Und schon wären die ersten Worksongs entstanden. Ein großer und kluger Film.
Film-Wertung: (9 / 10)
Imagine Waking Up Tomorrow And All Music Has Disappeared
Genre: Dokumentarfilm, Musik,
Länge: 86 Minuten, CH, 2015
Regie: Stephan Schwietert
Mitwirkende: Bill Drummond, The 17
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: RealFiction
Kinostart: 22.10.2015