Heute leben weltweit mehr Menschen in der Stadt als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. In Europa hat der zweite Weltkrieg viel Zerstörung und Anlass zu Wideraufbau und Neuplanung gegeben. Die moderne Stadt und das Verständnis von Urbanität wurden in der nachfolgenden Zeit maßgeblich geprägt und wirken noch heute. Die wunderbare Filmsammlung „Die moderne Stadt“ wirft einen Blick auf diese Phase der Stadtentwicklung und ihre Präsenz im Film. Die Herausgeber Ralph Eue und Florian Wüst haben dabei einige seltene Perlen aus den Archiven gezaubert. Seit Mitte April bei Absolut Medien zu beziehen.
„Modern Life is Rubbish“ konstatierte die Britpop-Band Blur 1993 mal mit jugendlichem Elan und brachte damit (nicht ganz unironisch) auch eine weit verbreitete Fortschrittsskepsis auf den Punkt. Wie sehr mag das erst für die modernen, urbanen Lebensumstände gelten. Bereits 1964 formulierte der Essayist Wolf Jobst seinen Abgesang auf die schönen, alten Innenstädte in „Die gemordete Stadt“. Der gleichnamige Film von Manfred Durniak wettert ebenfalls gegen die Errungenschaften modernen Bauens und stellt die öden, geplanten, neuen Wohnsiedlungen am Stadtrand in Kontrast zu dem lebendigen, durchmischten, innerstädtischen Lebensbereichen, die einst die Faszination der Großstadt ausmachten. Architekturkritiker Ulrich Konrads liefert den entsprechenden (ebenfalls nicht ganz unironischen) Kommentar zu diesem Potpourri städtischer Einblicke.
Aber die filmische Essaysammlung „Die moderne Stadt“ hat anderes im Sinn, als die Richtung der Stadtentwicklung zu verteufeln. Das alles ist auch dem fundierten und umfangreichen Booklet zu entnehmen. Vielmehr geht es den beiden Herausgebern Ralph Eue und Florian Wüst, beide beschlagen in Sachen Film und in Sachen Architektur, darum, ein Lebensgefühl, einen Fortschrittsimpuls zu erfassen und zu charakterisieren, der bis heute nachwirkt. Wirtschaftswunder und Aufbruchzeiten sind längst vorbei; die Stadtentwicklung, einst stolz auf ihre Suburbia, Gewerbegebiete und Fußgängerzonen, sieht sich längst mit drängenden Problemen konfrontiert: Verödung der Innenstädte, Gentrifizierung, Wohnraummangel und Fragen der Lebensqualität im Städtischen.
Dabei hatten die Planer anderes im Sinn. Das filmische Portrait des Architekten Ernst May zeigt vor allem das Bestreben, die Lebensumstände der Menschen in der Stadt zu verbessern. „Ein Platz an der Sonne“ sollte für alle möglich sein. Horneckers 10 minütiger Film macht aber auch ordentlich Werbung für die strukturierte Stadtentwicklung.
Da befasst sich der Filmmacher und Autor Peter Weiss („Der Schatten des Körpers des Kutschers“) auf ganz andere Art und Weise mit den großen Siedlungsprojekten Kopenhagens in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Der kaum bekannte Film „Bag de ens facader“ („Hinter gleichen Fassaden“) fängt das Leben in diesen Neubausiedlungen ein. Interviewt Bewohner und spürt dem eigentlich innovativen gemeinschaftlichen Ansatz nach. Hier wurden zentrale Einrichtungen, wie Kantine, Wäscherei und Portiersdienstleistungen für alle Bewohner bereitgestellt und gehörten maßgeblich zum Konzept. So entstanden Satellitenstädte mit all ihren Vor-und Nachteilen. „Hinter gleichen Fassaden“ ist das Herzstück dieser Sammlung filmischer Auseinandersetzung mit der Stadt der Sechziger Jahre und ein großartiges Zeitdokument. Vielleicht eine Anregung für heutige Planer.
Ein wahres Highlight in „Die moderne Stadt“ ist auch der 1930 entstandene Lehrfilm „Die Stadt von morgen – ein Film vom Städtebau“. Hier wird mit grafischen Animationen und Realen Impressionen das Prinzip der Stadtplanung erläutert. Zunächst wird simuliert wie sich eine Kleinstadt ohne Planung wuchernd ausbreiten würde und dann werden Leitlinien der Raumplanung eingeführt, um diese Entwicklung zu lenken. Das ist in seinen Grundzügen auch heute noch relevant und es erstaunt dennoch, wenn man das fertig geplante Großstadtmodell auch auf seine Heimatstadt anwenden kann.
Die filmischen Essays in „Die moderne Stadt“ sind ebenso abwechslungs- wie aufschlussreich. Wer sich mit dem Themenkomlex Stadt beschäftigen möchte, findet hier Unmengen von Inspiration. Dabei werden die Herausgeber mit ihrer Kompilation sowohl dem Thema als auch dem Medium Film mehr als gerecht und sorgen für drei sehr kurzweilige Stunden.
Film-Wertung: (9 / 10)
Die moderne Stadt – Filmessays zur neuen Urbanität der 1950/1960er Jahre
Herausgeber: Ralph Eue, Florian Wüst
Genre: Dokumentarfilm, Experimentell, Architektur
Länge: gesamt 177 Minuten
Filmliste:
En dag i staden (Ein Tag in der Stadt), Pontus Hultén & Hans Nordenström (19 Min., 1956)
Für einen Platz an der Sonne, Rudi Hornecker (10 Min., 1959)
Die Stadt, Herbert Vesely (36 Min., 1960)
Bau 60, Dieter Lemmel (12 Min., 1961)
Bag de ens facader (Hinter den gleichen Fassaden), Peter Weiss (27 Min., 1961)
Die gemordete Stadt, Manfred Durniok (40 Min., 1965)
Bonus:
Die Stadt von Morgen – Ein Film vom Städtebau, Maximilian von Goldbeck & Erich Kotzer (33 Min., 1930)
Vertrieb: Absolut Medien
DVD-VÖ: 17.04.2015
Die moderne Stadt bei Absolut Medien (mit Trailer)