Über Pop-Musik: Rituelles Abtauchen im Jetzt

über-pop-musik-vorSchon der Einband von Diedrich Diederichsens monolithischem Exkurs „Über Pop-Musik“ ist Bild gewordene orgiastische Musikliebhaber-Fantasie: endlose Tonträgerreihen, die sich zu einer immerwährenden Wand verdichten. Allein: Das Muster, wiederholt sich, ist konstruiert und ein Fake. Womit wir mitten drin wären in Diederichsens grundsätzlichem und umfassenden Werk über Pop-Musik. Es geht um Kulturtheorie im großen Stil, fordert dem Leser Einiges ab und belohnt mit der hintergründigen Aufdröselung so ziemlich aller Aspekte, die Pop-Musik ausmachen und zu bieten hat. Ein grundlegendes Werk. Pop-Musik ist eigentlich gar keine Musik, jedenfalls nicht nur.

Diedrich Diederichsen gilt seit Jahrzehnten als einer der führenden Kulturtheoretiker im deutschsprachigen Raum, sein gewähltes Sujet ist Pop-Musik als kulturelles Phänomen, was man gemeinhin unter Pop-Kultur versteht. Hier allerdings ist das etwas anders. Der 1957 geborene Autor legt mit dem epischen und wissenschaftlich fundierten „Über-Pop“ eine kulturwissenschaftlich gegliederte Erkundung vor, die im Bereich Pop bislang ohne Beispiel ist und zukünftig Maßstäbe setzen wird. Wenn man so will ist „Über Pop-Musik“ die systematische Synthese aus Diederichsens bisherigen Arbeiten.

„…unter der in diesem Buch geltenden Voraussetzung, dass wir uns Pop-Musik nicht als reine Musik denken, sondern als ein von allen möglichen Medien und Kulturtechniken verunreinigten Format, das Musik vor allem als Basis, als Untersatz braucht, um vor ihrem Hintergrund zu sprechen, zu zeigen und zu performen.“ (S.91)

Wie das so ist, wenn man grundlegende Diskurse führen will, muss man sich erst einmal über die Begriffe einig werden und das ist nicht eben einfach. Es braucht ein gerüttelt Maß an philosophischer, sozialwissenschaftlicher und medientheoretischer Vorbildung, um den Ausführungen folgen zu können. Da tauchen Roland Barthes, Marshall McLuhan und Foucault ebenso auf wie Adorno und Hegel. Im ersten der fünf Buchteile, geht es um humane Ressourcen, Rezipienten und Produzenten des Produktes Pop-Musik. Worüber die sich überhaupt Gedanken machen und wie sie kommunizieren wird in Teil zwei abgehandelt. Daran schließt sich ein musik- und kulturhistorisches Kapitel an, bevor es dann um die soziale Komponente der Pop-Musik geht und die daraus resultierende Gesellschaft.

„Über Pop-Musik“ ist ein kluges und faszinierendes Buch, eben weil der Autor die Widersprüche des Phänomens Pop-Musik zulässt und nicht wegbagatellisiert. Und Diederichsen zieht ganz solide und vor allem argumentativ nachvollziehbar einen Bezugsrahmen, der sich am klassischen Musikverständnis ebenso reibt wie an subkulturellem Nischendasein und von Chuck Berry bis zu Techno, von Soft Cell bis zu Sun O))) reicht. Alles Pop. Dabei ist die Musik gar nicht das eigentlich Wichtige an der Popmusik: sie ist mit ihrer empathischen Qualität allenfalls Vermittler und Gefäß. Pop-Musik schafft in erster Linie Personen, Pop-Stars. Identifikationsflächen, deren Bild mindestens so wichtig ist wie deren akustisches zu Wort melden. Es geht um Individualismus und Kollektivität, um Rituale und Abgrenzung,  Sinnstiftung und kommerzielle Industrialisierung.

„Das Ergebnis (wenn Retro-Wellen den Mainstream erreichen) ist gute Unterhaltungsmusik, angenehm den State of the Art zelebrierendes Klang-Design oder auch Kunstgewerbe. Zuweilen kann aber auch unter dem Immanenz-Druck große Kunst entstehen – meist ist das dann aber keine Pop-Musik im Sinne dieses Buches.“ (S.392)

Einige der von Diederichsen vertretenen Thesen sind durchaus streitbar. Etwa schon die grundlegende Abgrenzung der Pop-Musik von der Musik und von dem Populären. Auch über die Zuordnung, dass Pop kein Phänomen der Postmoderne sei, kann man sich bestimmt auseinandersetzen. Schön ist es aber trotzdem, wenn Diederichsen zu dem Schluss kommt, dass Pop-Musik eben Musik ist, die Beckett-Figuren machen würden (S. 385).

Fazit: Wer als Pop-Musik Fan irgendwann einmal den Punt erreicht hat, sich selbst zu hinterfragen: Was höre ich da eigentlich? Warum finde ich das gut? Wieso ist das ein Teil meines Selbstverständnisses und definiert meine Persönlichkeit?, der kommt an Diedrich Diederichsens Grundsatzüberlegungen in „Über Pop-Musik“ eigentlich nicht vorbei. Man bekommt zwar keine Anleitung, unsere Gesellschaft unzweifelhaft zu lesen, aber etliche Zusammenhänge – gerade, aber nicht nur – aus dem Kunst- und Kommerzkomplex, werden offensichtlich und verständlich. Freier Geist, was willst du mehr? Lesen!

Buch-Wertung: 10 out of 10 stars (10 / 10)

über-pop-musikDiedrich Diederichsen: Über Pop-Musik
Genre: Sachbuch, Kulturtheorie, MusikAutor: Diedrich Diederichsen
Verlag: Kiepenheuer & Witsch, Broschur, 468 Seiten,
VÖ: 08.03.2014

Homepage Diedrich Diederichsen

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