Ende April ist ein erstaunlicher Dokumentarfilm erschienen: „Die Eroberung der inneren Freiheit“. Inhaftierte Schwerverbrecher betreiben Philosophie – als Teil ihrer Rehabilitierungsmaßnahmen. Ein ebenso naheliegendes wie erstaunliches Experiment aus dem Strafvollzug und eine überraschende und faszinierende filmische Reise.
Im Jahr 2000 wurde in der Haftanstalt Berlin-Tegel ein Experiment durchgeführt: Den verurteilten Schwerverbrechern wurde das Angebot unterbreitet, freiwillig an einer philosophischen Gesprächsrunde teilzunehmen. Geleitet wurden diese Gespräche von den beiden Philosophen Horst Gronke und Peter Brune. Nach der sokratischen Methode sollen die Inhaftierten anhand von sehr allgemeinen Themen im Gespräch ihre eigene Situation erkennen und reflektieren. Die beiden Regisseurinnen Silvia Kaiser und Aleksandra Kumorek begleiten dieses Pilotprojekt über ein Jahr lang, sind bei den Gesprächsrunden zugegen und portraitieren dabei auch die Teilnehmer und ihren Alltag im Strafvollzug.
Die Methode philosophischen Erkenntnisgewinns durch Gespräche geht auf den griechischen Philosophen Sokrates zurück, der laut Überlieferung ganz normale Menschen in ihrem Alltag aufgesucht haben soll und diese anhand einfacher Fragestellung dazu brachte, über sich selbst und ihr Leben nachzudenken. Nichts anders versucht auch die Gesprächsrunde in Berlin-Tegel. Und so arbeiten sich die Inhaftierten an Begriffen wie „Der Wert des Lebens“, „Wahrheit und Lüge“ und „Freiheit“ ab, wobei die gesprächsführenden Philosophen sich selten einmischen, sondern dem Dialog unter den Teilnehmern seinen Lauf lassen.
Die Kamera hält sich dabei dezent im Hintergrund und beobachtet nur. Auch in den Sequenzen, in denen die Inhaftierten näher vorgestellt werden und über ihre Hoffnungen und Ängste reden, ist die Kamera niemals aufdringlich oder voyeuristisch, sondern gesteht den Menschen ihren Freiraum und ihre Würde zu.
Auf den ersten Blick erscheint „Die Eroberung der inneren Freiheit“ wenig spektakulär und auch von den Selbstreflexionen der Teilnehmer sollte der Zuschauer keine metaphysischen Revolutionen erwarten; darum geht es nicht. Die eigentliche Sensation ist, dass dieser Film überhaupt entstanden ist. Zum einen, weil es dieses Experiment im Strafvollzug gab und zum anderen, weil sich die Teilnehmer, wegen schwerer Kapitalverbrechen verurteilte Straftäter, überhaupt filmen lassen.
Die Spannung entsteht in der formal wohltuend unspektakulär gehaltenen Dokumentation allein aus der Situation der Gefangenen, in die ihre Taten sie gebracht haben, und den ethischen Implikationen der Gesprächsthemen. Mörder reden über den Wert des Lebens, Diebe über Ehrlichkeit und gefangen über Freiheit – und das so offen und aufrichtig, weil sie in dieser Gesprächsrunde keine Zurückweisung fürchten müssen. Das nachvollziehen und beobachten zu dürfen, ist ein unverhofftes Privileg. Und der aufmerksame Zuschauer beginnt nicht nur über die Themen nachzudenken, sondern auch über die eigenen Vorurteile gegenüber den Straftätern. Im Grunde ist „Die Eroberung der inneren Freiheit“ die Ausweitung des Dialogs auf den Zuschauer.
Fazit: Der Dokumentarfilm „Die Eroberung der inneren Freiheit“ zeigt ein Experiment aus dem Strafvollzug, bei dem Schwerverbrecher durch philosophische Gespräche zur Selbsterkenntnis gelangen sollen. Der Film eröffnet dem Zuschauer dabei Einblicke in eine Welt und eine Gedankenwelt, die sonst aus der Gesellschaft ausgegrenzt ist. Gerade das macht die hohe Faszination und die große Klasse von „Die Eroberung der inneren Freiheit“ aus.
Die Eroberung der inneren Freiheit
Genre: Dokumentarfilm
Länge: 80 Minuten, D., 2009
Regie: Silvia Kaiser, Aleksandra Kumorek
Mitwirkende: Peter Brune, Horst Gronke,
DVD-Extras: Interview mit Brume & Gronke,
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Realfiction, Good Movies
DVD-VÖ: 27.04.2012
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