John Burnside: In hellen Sommernächten

burnside-sommernächte-vorHoch im Norden, auf einer norwegischen Insel jenseits des Polarkreises, wo die Winter lang, dunkel und kalt sind und die Sommer immerhell die Nacht durchleuchten, beobachtet eine junge Frau die seltsamen Tode einiger junger Männer und erzählt dabei auch von ihrem eigenen abgeschiedenen Aufwachsen. Der schottische Romancier und Lyriker John Burnside erforscht wortmächtig die fahlen Räume dessen, was sich nicht erzählen lässt.

Zehn Jahre nach dem Sommer, in dem sich die seltsamen Todesfälle junger Männer zugetragen haben, die scheinbar grundlos allein aufs Meer hinausgefahren sind und dann in den Fluten ertranken, berichtet die junge Liv, Tochter einer allein erziehenden, erfolgreichen Malerin, von diesem Sommer: von dem jungen Briten, der die Hütte des alten Nachbarn für mehrere Monate gemietet hat, von dem alten Nachbarn Kyrre, der ihr praktisch ein Vaterersatz war und von seinen versponnenen, alten Geschichten, von dem mysteriösen Mädchen Maia, die die Wiedergängerin der Männer in die See lockenden Huldra zu sein scheint, von dem urplötzlichen, wenn auch indirekten Auftauchen des eigenen, leiblichen Vaters, vom Ende der Schulzeit und davon, sich selbst zu finden.

„Verschlungen mag ich nicht.

„In hellen Sommernächten“ folgt in seinem Aufbau und seiner Erzählstruktur klassischen Gruselgeschichten, in denen ein Überlebender von schaurigen, mysteriösen Dingen berichtet, die sich zugetragen haben und die jederzeit wieder geschehen können, weil das Alte, wenngleich vergessen, doch nie ganz aus der Welt ist. Die Ich-Erzählerin nähert sich dem Kern des Mysteriösen, diesem – wie Lovecraft es nennen würde – „Unnennbaren“ in beinahe taumelden Umrundungen. Wie ein Maelstrom entwickelt Livs Erzählung einen Sog, der unweigerlich in die Tiefe des polaren Meers hinabzieht und doch niemals dem Grund erkennt.

… Ich mag’s unberührt. …

Doch Autor John Burnside hat beileibe keinen Schauerroman geschrieben, vielmehr umtanzt, umtaumelt auch er den immer wiederkehrenden Kern seines Erzählens, den diffusen Raum, den Unort des Erwachsenwerdens, der Findung der eigenen Identität. Wie auch in „Glister“ oder in gänzlich anderer literarischer Form in „Lügen über meinen Vater“, ist Liv in ebenjenem Sommer des Ertrinkens auch dabei, ihren Platz in der Welt zu finden. Am Ende der Schulzeit, allein mit einer zwar zurückgezogenen aber überpräsenten Mutter sucht die junge Frau sich selbst, verliert sich dabei in alten Mythen und wandelt sich in eben das, was sie nie sein wollte. Liv wird von der Beobachterin zur Zeugin:

„Ich wollte keine Zeugin sein. Von Anfang an habe ich gewusst, dass dies das erste Gesetz der Beobachterin war: Sei nie eine Zeugin. Die wahre Beobachterin darf nur unter einer Bedingung verfolgen, was kein Mensch sonst sehen darf, und diese Bedingung lautet, dass sie niemals etwas verrät.“ (S. 315)

… Es gibt zu viel Berührung auf der Welt. …

Doch wie glaubhaft kann das Zeugnis einer Beobachterin sein, die selbst nicht sicher ist, ob sich das, was sie berichtet so zugetragen hat. Was ist Wirklichkeit, was ist Mythos? Eher beiläufig erwähnt Liv an einer Stelle, dass man ihr nachsage, sie hätte das zweite Gesicht. Doch angesichts der subpolaren Sommernächte, in denen es taghell bleibt und die Schlaflosigkeit selbst für die Einheimischen zum Alltag gehört, lösen sich die Grenzen zwischen Realität und Erscheinung auf, werden zugleich unwichtig und sind doch alles beherrschend. Burnsides Sommerinsel ist ein Zwischenreich in einer Zeit des Überganges und niemand weiß woher er kommt oder wohin er geht. Dafür Worte zu finden, ist die große Kunst, die große Gabe des John Burnside. „In hellen Sommernächten“ tastet mit großer Intensität nach den Worten und den Zuständen dieses Grenzgangs.

„Es war aber kein Traum, es war eine Geschichte – und das ist etwas anderes. Eine Geschichte steht für alles ein, was sich nicht erklären lässt, und auch wenn es viele Geschichten gibt, gibt es eigentlich doch nur eine; wir können den Unterschied erkennen, da die vielen Geschichten einen Anfang und eine Ende haben, die eine Geschichte aber funktioniert nicht so.“ (S.317)

… Zu viel Verschlungenheit.“ (S.79)

Fazit: Mit der Struktur eines Schauerromans erzählt der schottische Lyriker und Autor John Burnside eine große Geschichte über das Licht und das Dunkel des Aufwachsens. Eine sprachliche Suche, die ihre eigene Magie entfaltet. Die erzählerische Wucht und Intensität von „Lügen über meinen Vater“ oder „Glister“ erreicht „in hellen Sommernächten“ zwar nicht, aber Burnside ist und bleibt ein grandioser Autor des Unfassbaren.

Roman-Wertung: 7.5 out of 10 stars (7,5 / 10)

burnside-sommernächteJohn Burnside: In hellen Sommernächten
OT: „Summer of Drowning“, 2011
Übersetzung: Bernhard Robben
Verlag: Knaus, München, 384 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-8135-0460-6
VÖ: 5. März 2012

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