Am 12. April 2012 startet das kanadische Drama „Monsieur Lazhar“ deutschlandweit in den Kinos. Regisseur und Autor Philippe Falardeau war anlässlich der Deutschlandpremiere seines vierten Spielfilms auf dem Filmfest Hamburg im Oktober 2011 in der Stadt und stand zu einem Interview zur Verfügung. Eine kurze Kritik zu dem wunderbaren Film findet ihr im Rahmen der Filmfest-Berichterstattung. Aufgrund der Länge des Gespräches mit dem kanadischen Regisseur wird das Interview in zwei Teilen veröffentlicht. Im ersten Teil liegt der Fokus auf „Monsieur Lazhar“, Falardeaus erstem Film, der hierzulande in die Kinos kommt. Der zweite Teil des Geprächs, in dem es unter anderem um Falardeaus Werdegang geht, folgt nach dem Kinostart von „Monsieur Lazhar“. Aber Achtung das Interview enthält Spoiler.
Zum Zeitpunkt des Interviews war „Monsieur Lazhar“ einen Tag zuvor als kanadischer Beitrag für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert worden. Der Film hat es bekanntermaßen bis unter die fünf Shortlist-Nominierungen der Academy geschafft.
BRUTSTATT: Zunächst herzlichen Glückwunsch dazu, dass Ihr Film als kanadischer Beitrag für den Oscar ausgewählt wurde, gerade wurde es bekannt gegeben.
FALARDEAU: Vielen Dank. Das war eine Überraschung. Jetzt ist der Film also der kanadische Beitrag. Ich wusste, dass ich mich auf diesem langen Weg auf micro_scope, die Produktionsfirma, verlassen kann. Es ist nämlich kompliziert. Man braucht eine Medienagentur in Los Angeles und muss versuchen, Lobbyarbeit zu machen, damit die Mitglieder der Academy den Film sehen. Das ist ziemlich kompliziert.
BRUTSTATT: Dann stecken Sie jetzt mittendrin?
FALARDEAU: Ja, zu Hause machen die Medien immer ziemlich viel Wind wegen dieser Nominierung. Aber man muss das relativieren und ich versuche, einfach nicht daran zu denken. Aber Sie erinnern mich gerne daran.
BRUTSTATT: Zu Ihrem Film „Monsieur Lazhar“. Ich konnte den Film gestern in einer Pressevorführung sehen und er hat mir sehr, sehr gut gefallen. Am Ende war zu lesen, dass er auf einem Theaterstück basiert. Wie kamen Sie zu diesem Stück, das in Kanada sehr erfolgreich ist, oder? Und was haben Sie für den Film geändert?
FALARDEAU: Ja, das Stück hat eine Freundin von mir geschrieben. Mit der ich erst seit einem Jahr befreundet war. Ich hatte bis dahin also noch kein Stück von ihr gesehen. Dann kam dieses neue Stück heraus. Ich sah es mir an. Ich war gar nicht auf der Suche nach einem Thema für einen Film. Das Stück ist ein Solostück, nur Bashir Lazhar ist auf der Bühne. Und er spricht mit Menschen, die wir nicht sehen. Er macht Pausen, in denen wir uns die Antworten vorstellen. Es ist auch nur sehr kurz, nur 70 Minuten. Ich hörte mir das Stück also an und als Zuschauer muss man sich den Rest vorstellen, die Schule, die Kinder. Ich nutzte also meine Vorstellungskraft, während ich diesem wunderbaren Text lauschte, und ich begann den Film vor mir zu sehen. Seit Jahren hatte ich nämlich nach einer Idee zum Thema Immigration gesucht. Immer wenn ich eine Idee hatte, war sie zu didaktisch. Es ging immer um die Probleme von Immigration, nie um die Person. […] Dies war mehr als das, es ging um ihn und die Kinder, um die Tatsache, dass er seine Familie verloren hatte und sich entschloss, an diese Schule zu gehen und Kinder zu unterrichten, um so den Verlust seiner eigenen Kinder zu kompensieren. So sah ich das Stück und es berührte mich sehr. Also fragte ich sie, ob ich das Stück adaptieren könne. Sie war einverstanden, wusste aber nicht, wie. Meinem Produzenten ging es ebenso, weil es ein Solostück war. Schließlich nahm ich das Wesentliche der Figur und erfand den ganzen Rest. Ich wusste zum Beispiel, dass ich den Film über mehr Spannung brauchen würde als die Trauer der Figur über seine Familie und seine Vergangenheit in Algerien. Daher erfand ich das Verhältnis des Jungen mit seiner früheren Lehrerin, die sich umbringt.
„Zu Hause, im wahren Leben, sprechen wir nicht über den Tod“
BRUTSTATT: Das ist nicht aus dem Stück?
FALARDEAU: Nein, da geht es nur um den Lehrer, der mit den Kindern spricht. Im Stück spielt es eine große Rolle, dass es dem Lehrer so wichtig ist, mit den Kindern in der Schule über den Tod zu sprechen. Zu Hause, im wahren Leben, sprechen wir nicht über den Tod. Wenn ein Unfall passiert oder jemand sich umbringt, sprechen wir nicht darüber. Es ist tabu.
BRUTSTATT: Ja, im Film sprechen die anderen auch nicht darüber.
FALARDEAU: Es ist ein wichtiger Teil des Films, aber ich wusste, es wäre nicht genug. Ich wusste, dass sich der Film mit der Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Im Stück erfährt man, dass die Lehrerin sich umgebracht hat. Es spielt aber keine Rolle, unter welchen Umständen oder warum. Aber im Film muss man sich plötzlich mit der Wirklichkeit befassen, mit dem Geschehenen, und zumindest ein wenig davon zeigen oder erzählen. Als ich das Drehbuch schrieb, beschloss ich, den Selbstmord nicht zu zeigen. Aber dann dachte ich, dass wir nur eine Verbindung zu den Charakteren aufbauen, zu dem Jungen, dem Mädchen, wenn wir sehen, wie sie Zeugen des Dramas werden. Mit all diesen Überlegungen schrieb ich zwei Jahre am Drehbuch. Daraus entstand schließlich der Film.
BRUTSTATT: Der Selbstmord der Lehrerin im Film und im Stück: gab es den wirklich?
FALARDEAU: Nein. Mir gefällt an der Autorin des Stücks, dass sie besser darin ist als ich, etwas zu erfinden. Ich muss die Dinge wiederverwenden. Ich muss etwas in der Zeitung lesen …ich muss da tricksen. Sie kann etwas erfinden. Sie war zum Beispiel noch nie in Algerien, sie kannte keine Algerier, also begann sie zu recherchieren und dachte sich das Ganze aus. Es ist keine wahre Geschichte, aber ich glaube, sie funktioniert, weil es eben in der westlichen Welt so viel Immigration gibt. Hier gibt es viele algerische Immigranten, die während des Kriegs in Algerien in den 1990ern nach Kanada gekommen sind. Und Selbstmord! In Québec gibt es die höchste Selbstmordrate in der westlichen Welt. Es geht also um die Realität, nur nicht um eine bestimmte. Aber als ich begann, den Film zu zeigen, wurde mir erzählt, dass es in einem kleinen Dorf im Norden von Québec im Jahr zuvor einen Selbstmord unter den Lehrern an einer Schule gegeben hatte. So erfährt man diese Dinge.
„Worum es in dem Film geht, weiß ich erst, wenn der Film fertig ist.“
BRUTSTATT: Als ich den Film gestern sah, habe ich ihn nicht wie einen Film über Immigration wahrgenommen.
FALARDEAU: Das ist er auch nicht.
BRUTSTATT: Aber deshalb haben Sie ihn begonnen. Deswegen denke ich gerade darüber nach …
FALARDEAU: Aber der Weg verläuft nicht gerade. Der Film endet hier, er hätte hier enden sollen (zeigt mit den Fingern). Bei jedem meiner vier Filme dachte ich, ich schreibe über etwas; aber die Erfahrung zeigt: worum es in dem Film geht, weiß ich erst, wenn der Film fertig ist. Ich betrachte ihn und denke: Ah, darum geht es! Diese Betrachtung macht es interessant. So wie die Immigration in diesem Film, im Hintergrund bereichert sie den Film.
BRUTSTATT: Von Ihren Filmen konnte ich bisher nur „Monsieur Lazhar“ sehen. Ich bin neugierig auf die anderen.
FALARDEAU: Ganz anders.
BRUTSTATT: Ihr Profil auf der Filmseite imdb.com macht einen sehr interessanten Eindruck und ihre Werke haben Ihnen als Filmemacher in Kanada viel Anerkennung eingebracht, oder?
FALARDEAU: Das ist schwierig zu beantworten für mich. Ich habe Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen studiert. Filmmacher wurde ich zufällig. Deswegen habe ich jedes Mal Angst, dass jemand aufsteht und sagt: „Er ist ein Betrüger! Er ist kein echter Filmmacher.“
BRUTSTATT: Ich bin auch kein echter Journalist. Ich habe Geografie studiert.
FALARDEAU: Eben. Ich glaube, es ist gut, etwas anderes zu studieren, um Journalist zu werden, so wie es gut ist, etwas anderes zu studieren, um Filmemacher zu werden. Wenn junge Menschen mich fragen, auf welche Filmhochschule sie gehen sollen, sage ich ihnen: „Geht, wohin Ihr möchtet, aber studiert nicht nur Film, sondern auch Literatur, Philosophie, andere Dinge. […] Aber ich glaube, zu Hause in Kanada habe ich mich durch meine Arbeit weiterentwickelt. Ich kann es nicht erklären, warum ich diese Anerkennung bekomme, aber ich glaube, die Menschen sehen in meinen Filmen auch das Autorenkino, nicht kommerziell, sondern voller Großmut. In meinen Filmen geht es nicht um mich, um meine persönlichen dunklen Probleme, was im Autorenfilm häufig der Fall ist. Ich versuche, Filme über Andere zu machen. Darüber, dem Anderen zu begegnen. Und auch wenn es sehr dramatisch ist, und ich glaube, dieser Film ist ziemlich dramatisch, versuche ich, den Film mit viel Licht und etwas Humor aufzuhellen. Vielleicht bekommen meine Filme deswegen ein paar gute Kritiken.
BRUTSTATT: „Gute Kritiken“ ist ziemlich untertrieben.
FALARDEAU: Ich hatte gute Kritiken, aber nicht viele Zuschauer. Weil ich keine großen Stars einsetze. In Québec nehme ich nie bekannte Schauspieler.
BRUTSTATT: Tatsächlich ist Mohamed Fellag ein großer Star.
FALARDEAU: Aber nicht in Québec. Und nicht in diesem Bereich. Fellag ist ein großer Star als Standup-Comedian, besonders bei Menschen aus Marokko, Algerien und Tunesien. Sie kennen ihn alle. Die Franzosen – sie kennen ihn zum Teil auch. Aber zu Hause in Kanada kennt ihn niemand. Ich ging mit Fellag in Québec durch die Straßen, dort gibt es viele Algerier. Taxifahrer hielten ihr Taxi an, öffneten die Tür und luden ihn zum Tee ein. Sie alle verehren ihn, aber die anderen in Québec? Ich hatte vorher auch noch nie von ihm gehört.
„Im Film geht es viel mehr um das Trauern als um Immigration.“
BRUTSTATT: Ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber er spielt seine Rolle großartig. Die Balance von Traurigkeit, Humor und Ironie, das ist einfach wunderbar. Es ist lustig, zuzusehen, aber tiefgründig, nicht oberflächlich. Wie haben Sie ihn getroffen? Wie sind Sie auf ihn gekommen? Ich habe gelesen, dass er in den 80ern nach Frankreich und Kanada gereist ist.
FALARDEAU: Tatsächlich kam er nach Kanada, als er jung war. Er wollte sich Theaterstücke ansehen. Er hatte in Algerien Theater studiert, aber wegen der schlechten Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien wollte er nicht nach Frankreich reisen. Das war etwa 20 Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens. Er wusste, dass in Québec Französisch gesprochen wird, und entschloss sich, für zwei Jahre dorthin zu gehen. Ich habe ihn getroffen …
BRUTSTATT: In den 80ern?
FALARDEAU: Nein, 1980 war ich zwölf. Nein, unser Treffen hatte mit der Autorin des Theaterstücks zu tun. Éveline de la Chenelière, die das Stück geschrieben hatte, erzählte mir, dass ein Mann in Frankreich einmal eine öffentliche Lesung des Stücks gemacht hatte – vor kleinem Publikum. Ich fragte sie: „Wer ist der Mann?“ Sie antwortete: „Ich weiß es nicht, aber ich glaube, in Frankreich ist er bekannt.“ Ich sah ihn mir auf YouTube an. Ich sah sein Gesicht. Ich mochte sein Gesicht und seine Arbeit. Sein Leben und seine persönliche Geschichte glichen der von Bashir ein wenig. Also reiste ich nach Paris, um einige algerische Schauspieler vorsprechen zu lassen, in Paris leben nämlich ziemlich viele. Ich traf ihn bei dem Vorsprechen. Ich ließ ihn vor meiner kleinen Kamera vorsprechen. So traf ich ihn.
BRUTSTATT: Aber er war derjenige, der das Stück in Paris gespielt hatte?
FALARDEAU: Er hatte es nicht gespielt: es war nur ein Abend und er las das Stück vor. Er saß auf einem Stuhl und las das Stück vor, es ist ja ein kleines Theaterstück. Es war eine öffentliche Lesung, nicht so wie die Inszenierung, die ich in Montréal gesehen habe. Aber er kannte den Text. Und als ich ihn anrief und um ein Treffen bat, war er wirklich begeistert, weil er das Stück gelesen hatte und es wunderbar fand. Wir hatten aber unterschiedliche Visionen davon, wie der Film sein würde. Ich musste daran arbeiten.
BRUTSTATT: Das muss ein interessanter Prozess gewesen sein: zwei kreative Persönlichkeiten mit unterschiedlichen Ansichten.
FALARDEAU: Ja, aber ich muss sagen, dass er die ganze Zeit sehr bescheiden war. Schließlich ist er Autor, er schreibt Romane, komische Texte, er hat seinen eigenen kreativen Prozess. Aber er verstand, dass es im Film nur eine Vision gibt. Und er hat hart daran gearbeitet, meine Vision umzusetzen. Ich finde, er hat das hervorragend gemacht. Wir hatten keine Gelegenheit, den Film gemeinsam zu sehen, weil er arbeitet, seit der Film auf Festivals gezeigt wird.
„Ich sah sein (Fellag) Gesicht. Ich mochte sein Gesicht und seine Arbeit.“
BRUTSTATT: Fellag hat auch in anderen Filmen mitgespielt. Aber das ist seine erste Hauptrolle?
FALARDEAU: Ja.
BRUTSTATT: Ich habe eine Frage zur Vergangenheit der Figur. Im Programmheft steht, dass Monsieur Lazhar noch nicht lange in Kanada ist. Aber im Film hatte ich den Eindruck, dass er schon seit Jahren in Montréal ist und darauf wartet, dass er politisches Asyl erhält.
FALARDEAU: Ich glaube, das hat mit der Formulierung in dem Text zu tun. Für mich heißt „noch nicht lange“ acht oder neun Monate, nicht mehr. Als er den Kindern in der Schule begegnet, ist es Ende Januar, Anfang Februar. In meiner Vorstellung kam er im Mai im Jahr zuvor. Er wartet auf den Einwanderungsprozess. Was ich an der Figur mag, ist die Tatsache, dass er dem Einwanderungsausschuss die Wahrheit sagen und in der Schule lügen wird. Er lügt, wenn er sagt, er sei in Algerien ein Lehrer gewesen, was nicht stimmt. Seine Frau war Lehrerin. Er sagt dem Staat die Wahrheit, lügt aber in der Schule. Das gefällt mir. Und mir gefällt die Lüge, sie ist schön. Er muss bei den Kindern sein und glaubt fest daran, dass er den Kindern helfen kann, aber unbewusst will er die Arbeit seiner Frau wiedererstehen lassen.
BRUTSTATT: Ja, es ist ein Trauerprozess.
FALARDEAU: Genau. Und im Film geht es viel mehr um das Trauern als um Immigration.
BRUTSTATT: Es gibt eine Immigrationsszene, zumindest halte ich sie dafür: Als Monsieur Lazhar beim Schulfest in seinem Büro sitzt – und anfängt zu tanzen.
FALARDEAU: Ja. Das ist großartig. Ich glaube, das ist die einzige Immigrationsszene.
BRUTSTATT: Aber sie ist wunderschön. Da ist dieser Techno-Rhythmus, aber den Rest der Melodie lässt er für sich selbst entstehen. Ich fand es sehr traurig, dass die Lehrerin hereinkommt und er aufhört zu tanzen.
FALARDEAU: Hätten Sie gerne mehr gesehen?
BRUTSTATT: Gerne.
FALARDEAU: Das ist interessant, weil wir viel darüber diskutiert haben. Das war eine schwierige Szene (macht eine Pause). Die Musik musste stimmen und wir haben sie während der Nachbearbeitung erstellt. Sie musste im Film wirklich da sein, der Techno-Rhythmus von der Party, aber auch in seinem Kopf. Für uns als Zuschauer muss es glaubhaft sein. Und es ist das einzige Mal im Film, dass wir Zugang zu den Gedanken haben. Denn der Rest des Films ist Wirklichkeit. Nicht poetisch, obwohl es poetisch sein kann, aber ich meine, dass wir Zugang zu etwas in seinen Gedanken haben. Das ist anders als im restlichen Film. Mein Produzent war unsicher. Ich sagte, wir müssen es mit der richtigen Musik versuchen. Der Komponist hat sehr hart daran gearbeitet. Einige Zuschauer fanden die Szene lächerlich …
BRUTSTATT: Definitiv nicht!
FALARDEAU: … wegen der Art, wie er sich bewegt. Ich sagte nein. Weil wir sehen, dass er ein Mann mit Sinnlichkeit, Leidenschaft ist. Wahrscheinlich tanzte er oft mit seiner Frau. Im Film tanzt er nur ein Mal. Und im Drehbuch gab es die Lehrerin, die ihm zusah. Als ich die Szene drehte, als ich sie schnitt, ging es mir wie Ihnen. Ich sagte, vielleicht war es doch keine gute Idee, aber das Problem war, ich konnte sie aus der Szene nicht herausnehmen. Denn die Szene ist sehr kurz. Er dreht sich um, sieht sie und hört auf. Wir müssen also sehen, warum er aufhört. Weil sie ihm zusieht. Aber mir ging es wie Ihnen, ich hätte gerne noch mehr gesehen, weil wir zum ersten Mal sehen, wer er war.
BRUTSTATT: Aber dann wäre es ein völlig anderer Film gewesen.
„Bashir ist kein Tourist. Er ist geflohen. Das ist nicht dasselbe!“
FALARDEAU: Und sie. Sie ist seltsam, weil sie ihn nicht versteht. Sie ist so ein Mensch, dem die Gefühle anderer Menschen nicht bewusst sind. Und sie versucht viel zu sehr, Bashir zu gefallen.
BRUTSTATT: Ja. Die Szene, in der sie zusammen essen, ist lächerlich. Immigration mit Reisen zu vergleichen, das ist dumm.
FALARDEAU: Für mich ist das ein kleiner Hieb auf die romantische Ansicht, die einige über das Reisen um die Welt haben. Ich bin nicht so gereist. Ich war in Afrika, in Lateinamerika und ich hatte immer das Problem, dass ich nur als Tourist dort war. Ich tue mein Bestes, um kein Tourist zu sein, aber man ist es immer. Und Bashir ist kein Tourist. Er ist geflohen. Das ist nicht dasselbe!
BRUTSTATT: Es gibt einen weiteren Hieb auf die Politik: Die Unzufriedenheit aufgrund der Zweisprachigkeit Kanadas. Sie kommen aus dem französischsprachigen Teil …
FALARDEAU: (Lacht laut.) Sie haben sich informiert … Ich habe Politikwissenschaft studiert, also musste ich diesen Hieb unterbringen. Aber es ist mehr als das. Als ich begann, das Drehbuch zu schreiben, fuhr ich nicht nach Algerien, also musste ich ziemlich viel recherchieren. Ich kannte einen Mann, 55, der aus Algerien eingewandert war. Ich besuchte ihn und führte drei Tage lang Interviews mit ihm. Und er erzählte mir seine Geschichte, beginnend mit dem Tag, an dem er erfuhr, dass sein Name in Algerien auf einer Todesliste stand. Am nächsten Tag musste er seine Familie nehmen und in die USA fliehen, um von dort den Bus nach Kanada zu nehmen. Er erklärte es mir ganz genau. Er erzählte mir, dass er wusste, dass in Nordamerika Französisch gesprochen wird. Dass es diesen Ort namens Québec gibt. Er dachte, es sei ein Land. Er kam und sagte: „Ich möchte den Flüchtlingsstatus in der Unabhängigen Republik Québec erhalten“. Ich begann zu lachen, ich fand es so lustig, dass ich es in meinen Film aufnahm. Nur um es uns zu Hause zu zeigen, es ist also ein Witz für die Leute zu Hause, damit sie verstehen, dass die Menschen im Ausland gar nicht wissen, was hier mit Québec und Kanada los ist. Es ist ziemlich verwirrend. Und deswegen sind unsere Probleme aus der Sicht eines Einwanderers ziemlich seltsam. Ein verwirrendes Problem.
Das Gespräch verweilt bei dem Verhältnis zwischen den englischsprachigen und dem französischsprachigen Teilen Kanadas und dem mitunter schwierigen Verhältnis. Wie es sich darstellt, scheint es eine Art ignoranter Koexistenz zu geben.
BRUTSTATT: Haben Sie mit englischsprachigen Kanadiern zu tun? Treffen Sie sich überhaupt?
FALARDEAU: Ja. In Montréal … ich weiß nicht, ob Sie die Stadt kennen – in Montréal ist es einfacher, es ist wirklich eine schizophrene Stadt, zu etwa 65 % französisch, der Rest ist anglophon. Es gibt dort diese Straße, Saint-Laurent Street bzw. Boulevard Saint-Laurent. Sie teilt die Stadt und im Westen ist sie englisch, im Osten französisch. Es ist erstaunlich, aber auf dieser Straße begegnen wir uns! Wenn ich meine englischsprachigen Freunde treffe, dann fast immer in Cafés oder Restaurants in dieser Strasse. In einem früheren Film („C’est pas moi, je le jure!“, engl. „It’s Not Me, I Swear“, 2008), wurde die Musik von Patrick Watson komponiert, einem ziemlich bekannten Komponisten, der Lieder und eigene Alben schreibt. Er ist anglophon, aber bei dem Film arbeiten wir zusammen. In Montréal gibt es diese Zusammenarbeit, aber im restlichen Kanada gibt es sie einfach nicht. Das Verhältnis ist aber nicht angespannt, nicht so wie in Belgien. Es hat eher mit Desinteresse zu tun … irgendwie traurig.
BRUTSTATT: Wenn man die anderen einfach in Ruhe lässt, ist doch alles in Ordnung.
FALARDEAU: Einige Leute im frankophonen Teil empfinden durchaus Groll angesichts der Geschichte Kanadas. Aber die Leute in meiner Generation interessiert das eigentlich nicht mehr. Uns interessiert die Zukunft. Und meine Filme wurden auf Festivals in Toronto, Vancouver, Halifax, Sudbury eingeladen – überall im englischsprachigen Kanada und die Zuschauer dort lieben unsere Filme. Ich glaube, die französischen Filme haben etwas an sich: sie sind hemmungsloser, freier. Aufgeschlossener und freigeistiger als im englischen Kanada, wo die Menschen versuchen, eine Identität zu finden, die sie von den USA unterscheidet. Wir haben dieses Problem nicht, deswegen sind unsere Filme freier als im englischsprachigen Kanada. Ich spreche nicht über die Qualität der Filme, ich meine damit nur den Geist der Filme.
Daran schließt sich eine Betrachtung der Absonderlichkeiten bei den Academy-Nominierungen für fremdsprachige Filme an. Der israelische Film „Die Band von Nebenan“ , in dem eine ägyptische Polizeikapelle in Israel spielen soll, hatte Schwierigkeiten nominiert zu werden, weil Israelis und Ägypter englisch miteinander reden.
FALARDEAU: Der Mann, der den Chef des ägyptischen Orchesters spielt (Sasson Gabai) ist tatsächlich ein Israeli. Er ist ein irakischer Jude, der nach Israel gezogen ist. Dass er den Ägypter spielt, ist an sich schon ein starkes politisches Statement. Er sprach für die Rolle des Bashir Lazhar vor. Und wissen Sie wie? Wir erfuhren, dass er Französisch spricht, also schickten wir ihm den Text und er filmte sich selbst in einer Garage in Israel. Er schickte mir die DVD dieser Szene. Er machte das wunderbar und ich halte ihn für einen tollen Schauspieler. Deswegen fuhr ich nach Paris, um ihn zu treffen, und er spielte mir weitere Szenen vor. Er war großartig, aber sein Französisch war nicht gut genug wegen seines Akzents. In der Geschichte liebt Bashir Lazhar Französisch und liest Balzac. Er muss die Sprache also beherrschen. Dieser Schauspieler beherrschte sie nicht. Aber er wollte die Rolle spielen.
BRUTSTATT: Aber wenn Sie ihn ausgewählt hätten, wäre es viel mehr um Immigration gegangen, einfach wegen der Sprache.
FALARDEAU: Genau.
„Ich wurde in der Schule geschlagen, das ist noch nicht so lange her. Es ist gut, dass es verboten ist“
BRUTSTATT: […] Wenn man den Film „Monsieur Lazhar“ unter politischen und sozialen Gesichtspunkten betrachtet, üben Sie ziemlich viel Kritik: am Bildungssystem, an der Gesellschaft allgemein. Sehr viel. Meinen Sie, in der kanadischen Gesellschaft, in westlichen Gesellschaften muss etwas getan werden, oder ist das einfach so entstanden?
FALARDEAU: Ich versuche, in meinen Filmen ein Gleichgewicht herzustellen, zum Beispiel zwischen der Kritik am Schulsystem und dem Loblied auf die Lehrer. Ich möchte im Film zeigen, dass Lehrer einen harten Job haben, bei dem es nicht nur um das Unterrichten geht, sondern auch um Erziehung. Ich glaube nicht, dass der Vater Recht hat, wenn er sagt, Bashir solle sein Kind nicht erziehen. Und ja, ich versuche das System zu kritisieren, aber ich möchte vor allem, dass der Film Lehrern gegenüber großzügig ist. Zurück in Kanada möchte ich vor dem offiziellen Filmstart viele Vorführungen für Lehrer veranstalten. Ich möchte, dass sie verstehen, dass ich zwar streng mit der Schule umgehe, aber nicht mit ihnen. Ich will ihre Arbeit nicht kritisieren. Ich halte sie sogar für moderne Helden. Obwohl es auch wirklich schlechte Lehrer gibt. Aber das ist in allen Bereichen so, es gibt schlechte Ärzte, schlechte Fußballer. Was mich interessiert ist das Anfassen von Kindern in der Schule. Das war ganz neu für mich, weil es im Stück kein … wirkliches Anfassen gab. Das geht nicht und ich verstehe, warum. Wir haben irgendwann beschlossen, dass die Kinder nicht angefasst werden dürfen, wegen der körperlichen Züchtigung. Ich wurde in der Schule geschlagen und das ist noch nicht so lange her. Es ist gut, dass es verboten ist. Aber eine ungewollte Folge ist, dass man seine Zuneigung jetzt nicht mehr auf eine höfliche Weise ausdrücken kann, zum Beispiel mit einem Schulterklopfen. Die Lehrer können die Kinder nicht anfassen. Ich glaube, da sind wir zu weit gegangen. Aber ich will keine Debatte auslösen. Ich möchte vielmehr zeigen, wie es heute tatsächlich aussieht. Dann können wir sehen, ob die Eltern, die Lehrer entscheiden, dass etwas getan werden muss. Ich glaube nicht, dass es meine Rolle ist zu sagen, wir müssen das ändern. Ich glaube, meine Rolle als Filmemacher besteht darin, die Situation heute zu zeigen.
BRUTSTATT: Das verträgt sich gut mit Ihrer politischen Ausbildung?
FALARDEAU: Ja. Es ist schwierig, den Politikwissenschaftler aus dem Filmemachen herauszulassen.
Soviel zunächst von Monsieur Falardeu. Hier findet ihr die Fortsetzung des Interviews.
Das Interview fand in Hamburg anlässlich der Deutschlandpremiere von „Monsieur Lazhar“ auf dem Filmfest Hamburg 2011 am 07. Oktober 2011 statt.
Interview: Frank Schmidke, Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Lassek.
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