William Gibson: Systemneustart

http://www.klett-cotta.de/buch/Gegenwartsliteratur/Systemneustart/14048„Systemneustart“ ist William Gibsons zehnter Roman. Mit dem Cyperpunk, der ihn als Autor berühmt machte, hat das nicht mehr viel zu tun, visionär ist Gibson geblieben. „Systemneustart“ ist der Abschluss einer losen Romantrilogie, in der die weltweit agierenden Werbeagentur Blue Ant eine zentrale Rolle spielt.  Gibson gelingt erneut ein wegweisendes Meisterwerk, das nun auch in übersetzter Form vorliegt. Wer inteligente Unterhaltung sucht, kommt an „Systemneustart“ kaum vorbei.

Die ehemalige Rocksängerin und jetzige Journalistin Hollis Henry bekommt einen neuen Auftrag von dem ominösen belgischen Werbemagnaten Hubertus Bigend: Zusammen mit dem Ex-Junkie Milgrim soll Hollis einen Modedesigner ausfindig machen, der sich allen kommerziellen Spielregeln zu entziehen scheint und eine echte Underground-Legende ist. Gabriel Hounds nennen sich die heißbegehrten Denim-Kreationen, die es in keinem Shop zu kaufen gibt.

Hollis kennt ihren Auftraggeber schon von einer früheren Recherche, bei der es um virale Kunst ging (nachzulesen in „Quellcode“)und weiß, dass der superreiche Inhaber der global erfolgreichen Werbeagentur „Blue Ant“ nicht mit offenen Karten spielt: Angeblich geht es Bigend um einen Auftrag für Armeebekleidung. Doch die Zusammenarbeit mit Milgrim, der zunächst einen schrägen Eindruck vermittelt, entpuppt sich als zuverlässig.

Auch Paranoiker können Feinde haben

Gemeinsam gehen die beiden von London aus auf die weltweite Suche nach Spuren, die die Herkunft der ominösen Superjeans erhellen könnten und geraten dabei in das Visier konkurrierender Mode-Designer und immer tiefer in die undurchsichtigen Machenschaften des Hubertus Bigend.

gibson-musterGrob vereinfacht ist dies der Handlungsrahmen, aus dem William Gibson den dritten in sich abgeschlossenen Roman seiner jüngsten Trilogie strickt. „Mustererkennung“(OT: „Pattern Regognition“, 2003), „Quellcode“ (OT: „Spook Country“, 2007“) und „Systemneustart“ (OT: Zero History“, 2010) ranken sich lose um die Machenschaften von Hubertus Bigend, der dabei immer als graue Eminenz im Hintergrund die Fäden zieht, beziehungsweise die Sache ins Rollen bringt. Der Antrieb des Werbemagnaten scheint dabei eine virulente Neugier zu sein, die er allerdings immer im Sinne seines größten Profits zu nutzen weiß.

Den Beteiligten, die Bigend wie Spielfiguren in einer Versuchsanordnung aufeinander loslässt, ist zumindest unterschwellig bewusst, dass sie manipuliert werden und doch scheint die Arbeit für Bigend in ihrer jeweiligen Situation alternativlos. Der Pakt mit dem Teufel, mit dem Ziel ihn zu überlisten. Was letztlich immer zum Zielkonflikt zwischen eigenen Idealen und der Kommerzialisierung durch Bigend führt.

Laubfrösche und fliegende Delfine

Als Autor verfügt William Gibson über die erstaunliche Gabe, vage zu bleiben, während es scheint, als sei doch alles so konkret. Gerade in der „Bigend-Trilogie“ wimmelt es vor Andeutungen, schwer fassbaren Phänomenen, Unklarheiten und modernen Mysterien die in totalen Kontrast zur haptischen Fassbarkeit der Gegenstände und Szenarien stehen, die der Autor heraufbeschwört. Dabei geht es durchaus visionär zu. Obwohl Gibsons letzte drei Romane definitiv keine Science-Fiction sind, sondern fest verwurzelt in unserer Zeit mit ihren Problemen eher zum Genre der Wirtschaftskrimis zählen müssten, vermittelt Gibson das Gefühl, man befinde sich an der Schwelle einer aufbrechenden Veränderung. Der Einsatz von Technologie ist bei ihm kein erzählerisches Mittel sondern ein Abbild unserer Gesellschaft. Gleichzeitig verschwimmen durch die neuen Informationstechniken die Grenzen zwischen Realität und Virtualität, zwischen Heute, Gestern und Morgen.

Wo sind Sie?

gibson-quellcode„Systemstart“ ist ein spannendes sehr intelligentes Lesevergnügen, obwohl im Grunde kaum etwas geschieht, das in ein klassisches Thriller-Konstrukt passt. Die Spannung erwächst aus der Atmosphäre des Buches, jener von Paranoia geprägten chaotischen Zeitlosigkeit der Ereignisse. Nicht nur die Figuren, auch der Leser hat nur eine Ahnung, was sich hier überhaupt abspielt. Mit den Figuren findet auch der Leser Halt in der Vergangenheit. Hollis begegnet ihren ehemaligen Bandkollegen und Milgrim, der auf Bigends Geheiß in einer Schweizer Klinik auf eher experimentelle Weise von seiner Drogensucht geheilt wurde, verfällt häufig genug in alte Verhaltensmechanismen.

Doch irgendwie ist allen klar, dass die alten Zeiten vorbei sind und keine Verhaltensmuster für die Gegenwart aufzeigen. Hier geschieht etwas grundlegend anderes. Etwas im weltweiten Wirtschaftsgefüge hat einen Quantensprung getan. Genau fassen lässt sich die Veränderung jedoch noch nicht. Etwas hat sich verschoben und es ist kein Zufall dass der Global Player Bigend am Ende nach Island unterwegs ist.

Fazit: William Gibson gelingt mit „Systemneustart“ nicht nur der krönende Abschluss einer großartigen Trilogie sondern eine hochgradig lesenswerte Geschichte über das Innenleben des Turbokapitalismus.

Roman-Wertung: 9.5 out of 10 stars (9,5 / 10)

gibson-system-neuWilliam Gibson: „Systemneustart“
OT: „Zero History“
Genre: Roman, Krimi
Übersetzung: Hannes & Sara Riffel
Verlag: Tropen Verlag, 490 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-608-50113-1
VÖ: 23.05.2011
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