Corto Maltese – Die Königin von Bablyon: Fluchtpunkt Venedig

Der ewigjunge Abenteurer von Pratts Gnaden, Corto Maltese, taucht ein weiteres Mal nahe an unserer Gegenwart auf. Nach ihrem Abenteuer „Schwarzer Ozean“, das außerhalb der Comic-Reihe erschien, legen Szenarist Martin Quenehen und Zeichner Bastien Vivès mit „Die Königin von Babylon“ ein weiteres modernes Corto Maltese Abenteuer vor. Ich weiß ja nicht, wie es der geneigten Leserschaft geht, aber ich bin neugierig und freue mich.

Venedig, die durchlauchtigste Lagunenstadt in der italienischen Adria, war schon immer der Endhafen aller Balkangeschäfte. Anno 2002 ist der Abenteurer Corto Maltese mit einer Gruppe bosnischer Piraten unterwegs. Er ist verliebt in die Ziehschwester von Bandenboss Celo. Semira, kurz für Semiramis, kann sich sogar vorstellen auszusteigen. Mit Corto, sagt sie, würde sie sich jedenfalls nicht langweilen.

Doch dieser Coup, bei dem die bosnischen Piraten Geld und Waffen klauen um sie an die Iraker weiterzuverkaufen, läuft nicht rund. Celo ist misstrauisch, ja paranoid. Und dann, als es nur noch darum geht in Sarajevo die Beute zu verteilen, läuft die Sache aus dem Ruder. Corto Maltese ist wieder allein und schwört Rache. Wer unterwegs ist, findet schnell Kontakt beim fahrenden Volk. Zumal die Mutter eine Gitane ist, eine spanische Roma.

„Der Krieg ist niemals zu ende. Das einzige, was zählt, ist die nächste Schlacht zu gewinnen.“ (Celo)

Der große italienische Comic-Künstler Hugo Pratt hat einmal geäußert, er müsse für einen Band Corto Maltese häufig sehr aufwändig recherchieren und für eine einzelne Seite etliche Bücher lesen. Bisweilen macht es den Eindruck, auch Szenarist Martin Quenehen hätte für „Die Königin von Babylon“ ebenfalls umfangreich Material durchforstet. Es mag helfen, dass der Autor von Haus aus Historiker ist. So ist das jüngste Abenteuer von Corto Maltese eine Irrfahrt durch die Kriegswirren seit den 1990er Jahren.

Hierzulande und eigentlich in ganz Westeuropa herrscht die Einschätzung, dass die Gesellschaften in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend von Krieg verschont seien. Aktuell zeichnet der anhaltende Ukraine-Krieg ein anderes Bild und Israels Kampf gegen die Hamas in Gaza ist ein ebenfalls gefährlich naher Krisenherd. Eigentlich war schon mit dem Zerfall Jugoslawiens und den Balkan-Kriegen seither das Idyll eines friedlichen Europas verschwunden.

„Die Königin von Babylon“ beginnt im Jahr 2002. Etwas später als „Schwarzer Ozean“, und Corto, der Kapitän ohne Schiff, lässt sich intensiver treiben als je zuvor. Fast scheint es, als hätte er in Semira die große Liebe gefunden. Samira ihrerseits hat den Bosnienkrieg überlebt und sich der Bande von Celo angeschlossen. Einst war die amerikanische (Kriegs-)Fotografin Annie Leibowitz vor Ort, um die beiden abzulichten, aber Semira wollte nicht veröffentlicht werden.

„Die Usbeken waren bosnische Piraten und an der kroatischen Küste unterwegs.“ (Corto Maltese)

Hierin finden sich typische Corto Maltese Elemente Pratt‘scher Prägung. Maltese war schon immer in den Kriegswirren seiner ursprünglichen Erzählzeit präsent und schlawinerte sich entlang der globalen Konfliktlinien. Auch trifft der Held, so er denn einer ist, immer wieder auf bekannte Zeitgenossen. Etwa auf den Abenteuer-Schriftsteller Jack London in „Abenteuer einer Jugend“. Dieses erzählerische Element haben auch Juan Diaz Canales und Rubén Pellejero beibehalten, die die klassische „Corto Maltese“-Abenteuerreihe seit vier Alben in der Chronologie von Hugo Pratt fortsetzen. Zu prüfen etwa mit den Autor Joseph Roth in „Nacht in Berlin“. In „Königin von Babylon“ taucht das Motiv mit mehr Distanz auf, als Hommage.

Vivès und Quenehen entwerfen ihre Corto Maltese-Abenteuer mit Cong’scher Erlaubnis und dem Wohlwollen von Patrizia Zanotti an den Rändern der Gegenwart. „Schwarze Ozean“ war wohl als einmalige Sache geplant, nachdem das Duo bei der Graphic Novel „Nationalfeiertag“ so gut zusammen gearbeitet hat. Warum also aufhören, wenn es Spaß macht und noch Ideen da sind?

Allein die Tatsache, dass es bei Youtube einen Buch-Trailer zu „Die Königin von Babylon“ gibt, zeigt, wie sehr die Verantwortlichen hinter dem Projekt stehen. Das hat beinahe Vermarktungsansätze von amerikanischen Superhelden-Comics. Immerhin wurde das Album auch bei dem französischen Radiosender „Europe 1“ erwähnt, selbst wenn die Kommentatorin das Album nicht für ein „Corto Maltese“-Abenteuer hält. Der Verfasser dieser Zeilen sieht das definitiv anders.

„Babylon im Bombenhagel ist sagenhaft.“ (Gina)

Semira und Celo sind aus einer anderen europäischen Geschichte hervorgetreten als jener westeuropäischen. Zwänge, Gewalt und Hass haben ihr Leben geprägt und tut dies auch weiterhin. Statt sich abzuwenden, bleibt Celo in jenem Milieu, das ihm zweite Natur geworden ist, dem Guerillakampf. Da ist es beinahe egal, wer Waffen kauft und zu welchem Zweck, solange es nicht die verhassten Serben sind. Hauptsache die Bezahlung stimmt.

Doch der Preis ist hoch und wird an anderer Stelle von anderen Leuten gezahlt. Die Menschheit wird das Kainsmal nicht los. Und konsequenter Weise wirft es Corto immer weiter in Richtung der Ursprünge der Menschheit. Über Istanbul geht es nach Babylon. Unweit von Bagdad. Corto wird vereinnahmt von Kämpfenden im aktuellen und kommenden Krieg. Die Amis brauchen ihn als Schatzsucher während der „Krieg gegen den Terror“ unaufhaltsam in einen „Irak-Krieg“ übergeht. Bevor noch die fundamentalistischen Weltzerstörer Massenvernichtungswaffen in die Hände bekommen. So zumindest orakelte der ambitionierte brennende Bush. Corto hat jenen sagenhaften Schatz bereits andernorts nicht gefunden.

Und wieder eine Wendung, die Corto vom Zeugen zum Pilger zum Priester macht. Eine getriebene Seele, die mit den Göttern in Kontakt ist, ein Wiedergeborener. Vielleicht als Opfergabe, als Menschenopfer für die bezichtigte Hure Babylon. Semiramis beanspruchte den Titel Königin von Babylon anfangs, Ishtar aber, Göttin des Kampfes und der Wollust, baut längst an einem neuen Tempel, einem Turm zu Babel.

Möglicherweise hat die wendungsreiche Geschichte in „Die Königin von Babylon“ die eine oder andere Untiefe zu überbrücken. Möglicherweise geht es auf dem Zufallstrip nach Babylonien etwas zu actionlastig und zu willkürlich zu. Und möglicherweise entfernen sich Autor und Zeichner deutlich weiter von Hugo Pratts Fuss-Stapfen als noch im Vorgänger „Schwarzer Ozean“. Doch dieser moderne Corto Maltese gefällt als Kämpfer und Liebender und verletzbarer Held. Bitte mehr davon. Dieser moderne Corto ist lesenswerter und klüger als der überwiegende Teil aktueller Abenteuer- und Thrillerliteratur.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Corto Maltese: Die Königin von Babylon
OT: Corto Maltese: La Reine de Babylone, CH, 2023
Genre: Comic, Abenteuer
Autor: Martin Quenehen
Zeichner: Bastien Vivès
Corto Maltese erschaffen von Hugo Pratt
Übersetzung: Resl Rebiersch
Korrektorat: Pit Kannapin
Essay: Jean Hatzfeld
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 192 Seiten
VÖ: 05.12. 2023

Corto Maltese bei Schreiber & Leser