Jeronimus – Gesamtausgabe: Fliegen auf dem Schiffszwieback

Früher hieß Jakarta, die Hauptstadt von Indonesien, Batavia. Eben nach dieser fernen Stadt benannte die Niederländische Ostindienkompanie einst eines ihrer prachtvollsten Schiffe. Allerdings stand die Batavia unter keinem guten Stern und ist in die Geschichte eingegangen als Mahnmal für menschliche Grausamkeit. Davon erzählt die Graphic Novel „Jeronimus“, die nun im Juli 2023 als Gesamtausgabe bei Schreiber & Leser wiederveröffentlicht ist.

Im Jahr 1628 verstirbt der Sohn des Apothekers Jeronimus Cornelisz an Syphillis. Zuvor hatten der angesehene Haarlemer Apotheker und seine Gattin wegen der Säuglingserkrankung und ihres Mennonitischen Glaubens bereits unter Gerüchten über Unzucht zu leiden gehabt. Nach dem Tod des Kindes verliert Cornelisz alles und versucht einen Neuanfang bei der Niederländischen Ostindienkompanie (VOC).

Er lässt Haarlem, die Geschäfte und die Ehefrau hinter sich und heuert als Unterkaufmann auf der Batavia an. Das Schiff ist gerade erst fertig gestellt und zählt zu den Prunkstücken derNiederländischen Ostiniden Gesellschaft. Jeronimus ist nach dem Oberkaufmann Francisco Pelsaert quasi der zweite Befehlshaber und auch auf See dem eigentlichen Kapitän, Arjen Jakobs, weisungsbefugt, obwohl Jeronimus keine Ahnung von Seefahrt hat.

Ruhe vor dem Sturm

Die Batavia soll 24 000 Kilometer nach der namensgebenden Stadt zurücklegen und dann mit reicher Fracht den Rückweg über die Weltmeere antreten. Doch die Reise steht unter keinem guten Stern. Die Stimmung ist von Anfang an feindselig, die Mannschaft unzufrieden. Pelsaert wird im Laufe der Überfahrt krank und Arjen erweist sich als schlechter Seemann, was das Schiff ein ums andere Mal in eine gefährliche Lage bringt.

Jeronimus denkt über Meuterei nach, doch dann havariert das Schiff bei den Wallabi-Inseln vor Australien und die Mannschaft rettet sich auf ein kleines Eiland. Während Kaufmann Paelsert mit einem Boot versucht Hilfe zu holen, kämpfen die Zurückgelassenen ums Überleben. Jeronimus reißt mit den Meuterern die Macht an sich und führt ein gewalttätiges, willkürliches Regime.

Die Geschehnisse um den Schiffbruch der „Batavia“ sind halbwegs brauchbar dokumentiert und haben bereits kurz nachdem der Vorfall seinerzeit bekannt wurde für Entsetzen gesorgt. Schon damals galt der Inselaufenthalt der Überlebenden als Beispiel für menschliche Grausamkeit und Ruchlosigkeit. 2002 verfasst der Historiker Mike Dash ein Sachbuch zum Thema. „Der Untergang der Batavia“, so der Titel des 2005 auf deutsch verlegten Buches, ist die Grundlage der Graphic Novel „Jeronimus“.

Schiffbruch

Szenarist Christophe Dabitch und Illustrator Jean-Denis Pendax sind in der franko-belgischen Comic-Szene angesehene Künstler, die bereits diverse Werke geschaffen haben. Dabitch hat immer wieder auch politische beziehungsweise gesellschaftskritische Themen am Wickel, so etwa in dem Comic „Immigrants“ oder in dem historischen „Le Captive“. Jean-Denis Pendanx illustriert unter anderem die Comic-Serie „Svoboda“, die zur Zeit der russischen Revolution spielt. Dabei ist sein Stil durchaus unterschiedlich von dem in „Jeronimus“.

Das eigentlich Packende und künstlerisch Großartige an „Jeronimus“ sind die Illustrationen, die im Stil des „Goldenen Zeitalters der niederländischen Malerei“ gehalten sind. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der Niederlande im 17. Jahrhundert ging auch ein gesellschaftlicher und künstlerischer Höhenflug einher. In dieser Periode waren holländische Maler wie Rembrandt, Vermeer und andere das Maß aller Dinge in der Malerei. Die Bandbreite reichte von Stilleben über Landschaften und Portraits bis hin zur Weltkarte von Frederic de Wit.

Die geneigte Leserschaft findet Anklänge an „Das Mädchen mit dem Perlohrring“, die „Stadtansicht von Delft“ ebenso wie die Düsternis von Rembrands „Nachtwache“ und die sturmumtosten Marinebilder von Hendrick (Cornelisz) Vroom aus Harleem. Dabei versetzen die ausdrucksstarken Panels einen immer wieder direkt in die Zeit. Das ist beinahe einem gut ausgestatteten Historienfilm vergleichbar und doch auf ganz andere Art und Weise faszinierend, weil es eben weniger „nachgestellt“ wirkt.

Auf der Insel

Auf der anderen Seite nimmt sich Szenarist Dabitch durchaus erzählerische Freiheiten. Das scheint dem Autor wohl angemessen, um nicht reißerisch über die historisch belegten Greultaten zu berichten, sondern ihnen einen exemplarischen Kontext zu verleihen. Immer wieder werden die panelbegleitenden Sätze auch dafür genutzt, zu mutmaßen, was die Leute – vor allem Jeronimus – seinerzeit angetrieben haben mag? Das ist legitim, bleibt aber bei aller Ausdeutung aufgrund der Biografie akademisch und psychologisch durchaus streitbar.

Das Intrigieren auf dem Schiff, der Versuch der Meuterei und auch die Tyrannei und die Massaker auf den Inseln hingegen sind belegt und von Überlebenden bezeugt. Das ist schon verstörend zu lesen, ohne dass die Darstellung explizit gewalttätig wäre. Aber es handelt sich nicht umsonst um einen Comic für Erwachsene. Durch Dabitchs kommentierende Erzählung wir die Graphic Novel zu einem literarischen Bildungsroman, der viele Elemente einer Robinsonande enthält, aber eben auch die literarische Versuchsanordung aus Wililam Goldings „Herr der Fliegen“ aufnimmt und zu ähnlich misanthropen Schlussfolgerungen kommen muss.

Der stilsichere Comicverlag Schreiber & Leser hat „Jeronimus“ seinerzeit in drei Einzelausgaben herausgebracht: „Ruhe vor dem Sturm“, „Schiffbruch“ und „Auf der Insel“. Die aktuelle Gesamtausgabe folgt jener Erstauflage auch in Sachen Bonusmaterial. Es sind einige Skizzen aus dem Werkbuch enthalten und der Epilog kommt in Form eines kurzen historischen Abrisses. Wer seine Lektüre von Bildromanen nicht nur aus belletristischen Gewässern auswählt, sollte diesen Segeltörn in Erwägung ziehen.

„Jeronimus“ basiert auf einem historischen Vorfall und einem Sachbuch und glänzt vor allem in graphischer Hinsicht mit Illustrationen im Stil des Goldenen Zeitalters der niederländischen Malerei. Erzählerisch wagt „Jeronimus“ eine kommentierende Betrachtung, was der Dringlichkeit der Geschichte in gewisser Weise etwas abträglich ist. Auch mag die mitdenkende Leserschaft nicht allen Mutmaßungen und Deutungen von Autor Dabitch folgen mögen. In sich stimmig und lesenswert ist „Jeronimus“ allemal.

Comic-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Jeronimus – Gesamtausgabe
OT: Jeronimus, Futuropolis, 2008
Genre: Graphic Novel, Historisches
Autor: Christophe Dabitch
Zeichnung: Jean-Denis Pendanx
Übersetzung: Resl Rebiersch
ISBN: 978-3-96582-138-5
Verlag: Schreiber & Leser, gebunden, 272 Seiten
VÖ: 11.07.2023

Jeronimus bei Schreiber & Leser