Erst die zufällige Begegnung mit einem Fremden löst bei dem schottischen Autor John Burnside die längst fällige Auseinandersetzung mit dem verhassten, inzwischen verstorbenen Vater aus. „Lügen über meinen Vater“ ist eine schonungslose, autobiografische Reise in die eigene Vergangenheit. Dem Leser empfiehlt Burnside, er möge das Buch am besten als Werk der Fiktion lesen.
John Burnside steigt hinab in das schottischen und nordenglische Arbeitermilieu und die Jahre seiner Kindheit und Jugend in den 1950er und 60er Jahren. In die dunklen, stummen, versoffenen und gewalttätigen Tage des eigenen Aufwachsens. Bis er am Ende den verhassten Vater literarisch zu Grabe trägt und gleichzeitig seinen Frieden findet mit dessen Andenken.
Für eine ganze Generation von Männern der Arbeiterklasse war Grausamkeit eine Ideologie…
John Burnside wird als Sohn eines tyrannischen Säufers geboren und ist von Anfang an dem Makel ausgesetzt, eigentlich das zweite Kind zu sein. Die früher geborene Schwester überlebt das Kindbett allerdings nicht und schwebt nun wie in Geist durch Johns Leben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit macht der Vater dem Sohn klar, dass besser die Schwester überlebt hätte.
Das äußere Setting von Burnsides Kindheit ist auf gewisse Weise typisch, und doch schafft es der Autor immer wieder, der Klischeegefahr zu entkommen, indem er äußere Vorgänge durch das Innenleben der Personen filtert und so einen gnadenlos subjektiven Blickwinkel findet. Mit kraftvoller Sprache und dem brachialen Willen zu verstehen wird „Lügen über meinen Vater“ zu einen diabolisch düsteren Leseabenteuer.
Burnsides Vater, selbst ein Findelkind, das von der Türschwelle aufgelesen und später dann in der kleinen Arbeitersiedlung von Familie zu Familie gereicht wurde, erfindet sich immer wieder selbst und bleibt doch immer derselbe zum Alkoholismus neigenden Familiendespot. Die Geschichten seiner Herkunft und seiner Verdienste pendeln zwischen selbstherrlicher Aufschneiderei und dem drängenden Wunsch nach sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit.
...Sie war nötig, um den Jungen zu einem zähen Burschen heranzuziehen
Der Konflikt mit dem nie zufriedenen und nicht zu menschlicher Wärme fähigen Vater beginnt früh und prägt Burnsides Kindheit ebenso wie das harte und derbe Arbeitermilieu, aus dem die Familie auch durch einen Umzug nach England nicht ausbrechen kann. Als Hilfsarbeiter sind die Möglichkeiten des saufenden Aufschneiders von Vater zu begrenzt. Das wenige an Wohlstand entspricht nicht dem Verständnis und Anspruch von Johns Mutter, die still und katholisch erduldet. Und immer wieder diese Sauftouren, bei denen große Teile des Haushaltsgeldes verpulvert werden.
Was den Jungen durch seine Kindheit trägt, ist die früh entflammte Flucht in die Literatur, auch wenn er sich damit zum Außenseiter macht. Der Wille der Mutter, den Sohn zu fördern, zeigt vom ersten Schultag an auch negative Erscheinungen: Schon lesen zu können, wird von den Lehrern nicht nur gutgeheißen und macht John zu einem Sonderling. In späteren Jahren langweilt die Schule den jungen John zusehends und er stürzt sich in Abwechslung.
Die Teilnahme an der Umwelt zurückgewinnen
Burnside stürzt sich dann in das eigene Leben und macht erhellende Drogenerfahrungen. Er entdeckt aber auch seine eigene dunkle Seite, seine Neigung zum Exzess, die ihn schließlich zeitweilig in die Psychatrie führt. Und noch immer ist das Verhältnis zum fernen Vater eine unbewusste Triebfeder für John Burnside. Der Autor reagiert mit Hass und Verdrängung auch nachdem der Vater an seinem vierten Herzinfarkt stirbt.
Die „Lügen über meinen Vater“ sind die Lügen, die der Vater zeitlebens selbst erzählt und kultiviert hat. Es sind auch die Lügen, die der Sohn durch seine Sichtweise über den Vater fabriziert. Vor allem aber sind es die Lügen, mit denen John Burnside sich selbst seinen Vater in Vergessenheit redete. Mit diesem Buch scheint es dem Autor endlich zu gelingen, seine eigene Geschichte zu akzeptieren. Burnside kommt der Wahrheit schmerzlich nahe.
Es ist neben der reflektierten Erzählperspektive aus Kindersicht die Wortmächtigkeit des John Burnside, die „Lügen über meinen Vater“ so außergewöhnlich macht. Letztlich hat „Lügen über meinen Vater“ atmosphärisch vieles mit „Glister“, Burnsides letzten Roman, gemeinsam. „Glister“ erschien, ebenso wie „Die Spur des Teufels“, im Original nach den autobiografischen „Lügen“. John Burnsides jüngstes Werk „Waking up in Toytown“ erschien 2010 und führt die Erzählung seiner Lebensgeschichte fort.
„Mein Leben lang war meine Umgebung von Vätern jeglicher Couleur beherrscht worden, von korrupten Autoritäten, vom System: Bat ich einen dieser Vater um Brot, gab er mir Stein; bat ich um Fisch, gab er mir Schlangen.“
Fazit: Sich mit der eigenen negativ besetzten Vergangenheit zu beschäftigen ist keine leichte Angelegenheit und es bedarf eines mutigen Autors, daraus Literatur zu erschaffen. Dem schottischen Autor John Burnside gelingt mit „Lügen über meinen Vater“ eine aufwühlende, dunkle und innige Geschichte seiner Kindheit. Das erzählt viel Erhellendes über Väter und Söhne und ist einfach große Literatur. Mehr von diesem grandiosen Autor, bitte.
Buch-Wertung: (8 / 10)
John Burnside: Lügen über meinen Vater
OT: A Lie about my Father (2006)
Genre: Autobiographie
Übersetzung: Bernhard Robben
Verlag: Albrecht Knaus, München, 384 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-8135-0315-9
VÖ: 8. März 2011
Weiterführende Links:
Buchseite des Knausverlag mit Leseprobe
Rezension zu „Glister“John Burnside auf Lesereise 2011
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