Dinge mit Liebhaberwert hat wohl jede:r in seinem Leben. Bisweilen sind es Gegenstände, an denen Erinnerungen hängen, bisweilen sind es Orte, in denen Erinnerungen leben. In Joachim Triers Drama „Sentimental Value“ ist es das Haus der Familie, dass in mehrerer Hinsicht eine zentrale Rolle spielt. In Cannes 2025 mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, bringt Plaion Pictures „Sentimental Value“ am 4. Dezember auch hierzulande in die Kinos.
Agnes sollte als Kind einen Aufsatz aus der Perspektive eines Gegenstandes schreiben und entschied sich für das Haus, in dem die Familie lebt. Jahre später lebt Agnes (Inga Lbsdotter Lilleaas) mit ihrer eigenen Familie in dem Haus in Oslo, in dem sie aufwuchs. Zur Gedenkfeier ihrer verstorbenen Mutter, einer Psychotherapeutin, kommt auch Agnes große Schwester Nora (Renate Reinsve) vorbei. Die ist Theaterschauspielerin und leidet bisweilen an Lampenfieber. So auch bei der Premiere des aktuellen Stückes.
Für Nora überraschend taucht auch Vater Gustav Berg (Stellan Skarsgard) auf. Der war mal ein gefeierter Autorenfilmer, hat aber länger keinen Erfolg mehr zu verbuchen. Und Nora hat seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihrem Vater. Agnes aber schon und irgendwie hat Gustav auch das Recht sich von der Frau zu verabschieden, die er einst für den Erfolg verlassen hat.
Doch der Filmmacher ist nicht nur wegen der Trauerfeier in Oslo, sondern auch um Nora ein Angebot zu machen. Gustav Borg hat ein Drehbuch für und über seine Tochter geschrieben. Das orientiert sich an der Familie, als sie in ebenen Haus lebt. Doch Nora will davon nichts wissen und nicht mit ihrem Vater zusammenarbeiten.
Ein Comeback
Als Gustav bei einem Filmfestival in Frankreich mit einer Retrospektive geehrt wird, ist die amerikanische Schauspielerin Rachel Kemp (Elle Fanning) angerührt und begeistert von Gustavs Meisterwerk. Der Meister erkennt eine Gelegenheit und bietet Rachel das Script und die Rolle an. Und selbstverständlich muss im Haus der Familie in Oslo gedreht werden – allein schon aus sentimentalem Wert.
Der norwegische Filmmacher Joachim Trier („Thelma“, „The Worst Person in the World“) wandelt mit „Sentimental Value“ auf den Spuren des großen Ingmar Bergmann. Allein, es fehlt dessen Gravitas. Denn statt mit psychologischer Schwere zu Werke zu gehen, lässt Trier seinen Charakteren Luft zum Atmen und Raum zur Leichtigkeit, die das Auf und Ab des normalen Lebens in die Filmwelt hineinlassen.
Und diese Filmwelt von „Sentimental Value“ ist eine mehrfach gebrochene und gespiegelte. Wenn Gustav seiner Nora das eigene Drehbuch mit dem scheinbaren Kompliment anzudrehen versucht, er wolle sie nicht mehr in angestaubten Stücken auf der Bühne sehen, sie brauche eine größere Leinwand. Dann ist das höchst manipulativ und durchaus eigennützig, denn ohne die Hauptdarstellerin scheint der Film nicht möglich. Und es ist auch – wie sich später zeigt – ein Seitenhieb auf die eigene Familiengeschichte.
Womöglich aber nicht faktengecheckt hat wohl auch der große norwegische Dramatiker Hendrik Ibsen mit Noras Namen und den anfangs aufgeführten Stück seine Fußabdrücke in „Sentimental Value“ hinterlassen. Wesentlich ist allerdings auch, dass der Film auf norwegisch gedreht ist (mit Ausnahme von Skarsgard, der wie immer in skandinavischen Produktionen schwedisch redet.) So bleibt der Schauspielstar Außenseiterin, als gehöre sie nicht zur Familie.
Ein Alterswerk
In Gustavs Meisterwerk spielte Tochter Agnes als Kind eine tragene und rührende Rolle. Doch sie hat sich früh genug in ihrem Leben entschieden, das Schauspiel nicht weiter zu betreiben. So entkommt die Tochter aus dem Falle, die Familientradition und Rivalität bereithalten. Anders Nora, die nicht nur aufgrund ihres Lampenfiebers in Therapie war.
Die Situation verschärft sich, als Gustav später mit dem amerikanischen Star im Haus der Borgs auftaucht. Allzu offensichtlich muss sich Rachel mühselig erarbeiten, was Nora quasi per eigener Erfahrung zugefallen wäre. Und die amerikanische Schauspielerin mutiert vor den Augen der Tochter zur Ersatztochter.
Doch „Sentimental Value“ hat über das Drama hinaus auch leichtere Aspekte zu bieten, so ist die Vorbereitung für das Filmprojekt, eine Handlungsebene für sich. Darin versucht Gustav die alte Crew wieder zusammenzubringen. Das gestalte sich, wie einst bei den „Blues Brothers“ als schwieriger als gedacht. Dieser Filmaspekt hat sicherlich auch dazu beigetragen, dass „Sentimental Value“ in Cannes derartig gut angenommen wurde. Schließlich ist bekannt, dass die Brache die Nabelschau liebt.
Eine Familienzusammenführung
Eine große Qualität von Joachim Tiers sehenswerten und liebenswertem Film ist die Nähe zu den Charakteren und die Lebendigkeit der Figuren. Hier werden mit feinem Strich nuancierte Psychogramme gezeichnet, ohne dass es zu analytisch werden würde. Stattdessen schreitet die Handlung in Schritten und klar getrennten Szenen fort und die Beteiligten verhalten sich dazu wie mensch sich dem Leben stellt, während es weitergeht.
Immer wieder lassen sich Spiegelungen finden und Differenzierungen. Zwischen Leben und Drehbuch, Zwischen Bühne und Kamera. Zwischen Vater und Tochter, zwischen Regisseur und Schauspielerin. Und zwischen Location und Wohnhaus. und in einer Sequenz, in der sich die Porträts der Borgs überlagern ist die Hommage an Bergmann auf die Spitze getrieben. Und am Ende kann sich „Sentimental Value“ eine n finalen Twist nicht verkneifen, der durchaus dazu angetan ist, noch einmal über alles nachzudenken.
„Sentimental Value“ ist ein überaus kluger und versierter Film, der mit leichter Hand eine komplexe Familienaufstellung thematisiert und zugleich das Leben zur wahren Kunst erhebt. Das ist klug und empathisch geschrieben und wird von einem herausragenden Cast mit skandinavischer Lässigkeit vorgestellt. Definitiv einer der besten Filme des Kinojahres.
Sentimental Value
OT: Affeksionsverdi
Genre: Drama,
Länge: 138 Minuten, N/D/DK, 2025
Regie: Joachim Trier
Schauspiel: Renate Reinsve, Elle Fanning, Inga Lbsdotter Lilleaas,Stellan Skarsgard
FSK: ab 12 Jahren
Verleih: Plaion Pictures
Kinostart: 04.12.2025






