Die Vertriebenen: Straße ins Nichts

Das düstere und bedrohliche Drama „Die Vertriebenen“ zeigt zwei ungleiche Schwestern, die sich mit trostlosen Alltag und absonderlichen Vorstellungen herumschlagen müssen. Dabei kann das Publikum das intensive und kryptische Werk von Anja Kreis durchaus verkopft auffassen, oder sich von der nihilistischen Dunkelheit beeindrucken lassen. Zu sehen im Verleih von Deja Vu Films ab dem 30. Januar 2025 hierzulande in den Kinos.

In einer unbenannten Provinzstadt in der Republik Moldau gibt es übermäßig viele Abtreibungen. Die Philosophieprofessorin Varvara (Maria Tschuprinskaja) hält die letzte Vorlesung vor der Zwischenprüfung über den Tod Gottes als philosophisches Konzept. Dabei zieht die Professorin eine Argumentations- und Beispielkette von Herodes methodischem Kindesmord in Bethlehem zu dem deutschen Denker Friedrich Nietzsche.

Am Nachmittag bekommt sie überraschend Besuch von ihrer Schwester Angelina (Dana Ciobanu), einer Frauenärztin, die aus Moskau hergeschickt wurde, um Aufklärung und Gesundheitsvorsorge zu verbessern. Vorläufig leben die beiden eher rationalen und unterkühlten Schwestern zusammen in Vavaras Wohnung.

„Damals waren Männer so mächtig, dass sie sich selbst erschaffen konnten.“

Die Stimmung bleibt angespannt. Angelina nimmt die Arbeit auf und stellt befremdet fest, dass zum Team der Frauenklinik auch ein Geistlicher gehört. Die Ansichten über Schwangerschaftsabbrüche gehen auseinander, aber in der Klinik ist man sich einig, dass die Autobahn die Probleme in der Stadt noch verstärkt habe und die Prostitution. Dann erscheint eine junge Frau in der Klinik und verlangt, dass Angelina eine Abtreibung vornimmt, obwohl die Schwangerschaft zu weit fortgeschritten ist. Die Frau behauptet, sie sei Jungfrau und der Foetus sei der Antichrist.

Vavara muss sich derweil mit den Zwischenprüfungen beschäftigen und lässt einen Studenten durchfallen, der ihr auf die Prüfungsfragen anzügliche Antworten gibt und die Frage zu Nietzsche mit der Begründung nicht beantwortet, dass Nietzsche krank war und seine Ideen daher nicht diskutiert werden müssen.

Der Student akzeptiert das Prüfungsergebnis nicht und taucht immer wieder bei Vavara auf. Angelina wiederum bekommt es immer häufiger mit eigenartigen Abtreibungspatientinnen zu tun. Das Verhältnis der Schwestern bleibt angespannt und Vavara engagiert einen Anwalt um herauszufinden, warum ihre Schwester tatsächlich da ist.

„Danach ist etwas schief gegangen in der Welt. Es wurden Frauen erschaffen.“

Die russischstämmige Regisseurin und Autorin Anja Kreis legt mit „Die Vertriebenen“ (OT: „fara suflet“, was sich mit „seelenlos“ übersetzen ließ) einen höchst verstörenden und auch verkopften zweiten Film vor. Das mag in Phasen auch als Horror oder Thriller durchgehen und inszeniert auch einen medizinischen Eingriff. Das erinnert in der klinischen Szenerie an Lars von Triers „Geister“-Serie und ruft in seiner metaphysischen Undurchsichtigkeit eine Nähe zum jüngst verstorbenen David Lynch hervor.

Das Filmgeschehen ist nicht einfach anzuschauen und auch nicht zu durchdringen, aber es ist bedrohlich und stilistisch konsequent finster diabolisch gefilmt. In der Stimmung fühlte sich der Rezensent häufiger an Ryan Goslings Regie-Debüt „Lost River“ (2014) erinnert, das er sehr schätzt. Allein, der in den geisterhaften Ruinen der leergefallenen Teile Detroits, ist in seiner physischen Abgründigkeit fassbarer als „Die Verlassenen“.

Es mag an dieser Stelle dem Publikum sicher helfen, Erklärungsansätze für den Film aufzuzeigen oder durchzuexerzieren, doch wo bliebe dann die cineastische Herausforderung, der Reiz des Unbekannten? Doch das Unbekannte ist immer auch Bedrohung. Der gilt es zu begegnen und furchtlos aus dem Leinwanddunkel hervorzutreten.

„Nietzsche war krank. Es lohnt sich nicht über seine Ideen zu diskutieren.“

Soviel aber dann doch noch. Filmmacherin Anja Kreis bietet in den Filminfos Interpretationsansätze und legt ihre Intentionen offen dar. Grundsätzlich ist eine Künstler:in nicht immer die beste Analyst:in des eigenen Werkes. Da ist viel philosophischer Überbau im Spiel, der symbolistisch und metaphernreich in Szene gesetzt wird. Bisweilen etwas plakativ, etwa wenn die Abtreibungsärztin lustvoll Eier löffelt. Doch für mitdenkende und schauende Menschen ist „Die Vertriebenen“ in seiner vagen Vieldeutigkeit auch ohne Philosophiestudium durchschaubar.

Es mögen sich zwei Hauptmotive anbieten die sich durch den Film ziehen. Einerseits die im Grunde scheinheilige Religiosität, die sich immer wieder in alltäglichen Verweigerungen zeigt. Da wird Glaube beschworen, wo vermeintlich Böses am Werk ist. Andererseits – und damit im Zusammenhang – zeigt sich eine derart systemimmanente Frauenfeindlichkeit, dass sogar Frauen sie übernehmen. Stellvertretend etwa die ältere Dame, die mit ihrem Enkel auf dem Klinikflur auf Angelinas Kollegin wartet um sich zu bedanken, dass sie die Tochter von einer Abtreibung abgebracht hatte. Die Tochter sei zwar bei der Geburt gestorben, aber die Frau hätte nun ja dem Enkel.

Wer also die titelgebenden „Vertriebenen“ letztlich sind, lässt sich auf viele Arten beantworten. Das düstere Drama, das auch mit stimmungsmäßigen Versatzstücken des Grusel-Genres spielt, ist kein Film für ein breites Publikum. Am ehesten mag „die Vertriebenen“ jene ansprechen, die in beängstigenden Szenarien und undurchsichtigen, rätselhaften Vorgängen auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Diskussion sehen mögen. Bisweilen geht es möglicherweise übers Ziel hinaus, aber „Die Vertriebenen“ ist bildstark und konsequent.

Bewertung: 4 von 5.

Die Vertriebenen
OT: fara suflet
Genre: Drama, Thriller,
Länge: 95 Minuten, D/F/MD, OmU, 2024
Regie: Anja Kreis
Schauspiel: Maria Tschuprinskaja, Dana Ciobanu
FSK: nicht geprüft
Verleih: deja vu Films
Kinostart: 30.01.2025

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