Wir sind so frei: Globalisierung und Protest

Gerade erst (am 3.9.2024) sind in Hamburg zwei weitere Urteile zur Rondenbarg-Demo auf dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 verkündet worden. (Link unterm Text). Darin reicht schon die Teilnahme an einer Demo aus um verurteilt zu werden, wenn aus der Menge einzelne eine Bedrohungslage schaffen (oder so ähnlich). Es sind genau solche Urteile und jenes Rechtsverständnis, das bei Demonstrierenden und Aktivisten immer wieder zu einer Irritation führen. Die Langzeitdoku „Wir sind so frei“ der Hamburger Produktionsfirma „No Doubt Media“ betrachtet im Nachgang des G20 Gipfels wie mit dem Protest und dem Aktivismus im Land umgegangen wird. Die Perspektive ist kapitalismuskritisch und betrachtet das Themenfeld in unterschiedlichen Aspekten. Drop-out Cinema bringt „Wir sind so frei“ ab dem 5. September 2024 in die Kinos.

Wie frei sind wir denn, sobald der Staat bürgerliche Freiheiten einschränkt oder die Staatsmacht die Befugnisse dehnt oder überschreitet? Nu je, im aktuellen Rondenbarg-Urteil wurden vergleichsweise geringe Geldstrafen ausgesprochen, den Angeklagten konnten aber keine der angeschuldigten Straftaten nachgewiesen werden. Was zu der Frage führt, warum sie dann Geldstrafen auferlegt bekommen haben?

Die Doku „Wir sind so frei“ zeigt: Jahre nach dem Gipfel, der 2017 stattfand und bei dem es laut Aussage des damaligen Oberbürgermeisters Olaf Scholz (Heute Bundeskanzler) keine Polizeigewalt gegeben habe, werden beteiligte Demonstranten immer noch mit ihrer damaligen Teilnahme konfrontiert. Eine Demonstrantin der Bonner Gewerkschaftsjugend wurde nicht nur festgehalten, ihre Meldeadresse und die Wohngemeinschaft wurden im Nachgang durchsucht und der damalige Arbeitgeber darüber informiert, in welchen Kreisen sich seine Mitarbeiterin aufhält.

„Die Polizei hat mich fertiggemacht. Und dann kann sie auch noch zu mir nach hause kommen und es nochmal machen.“

Ähnlich erging es einem französischen Öko-Aktivisten, der nach dem Gipfel per internationalem Haftbefehl gesucht wurde. Auch er hat aufgrund der Teilnahme an den Demos juristische Konsequenzen zu erdulden. Für einige der Anwälte und Aktivisten hat das ein Geschmäckle von Gesinnungsjustiz, die bereits eine abweichende Einstellung als staatsgefährdend einstuft.

Tatsächlich geht die Doku „Wir sind so frei“ über den Bezugsrahmen des G20 Gipfels und der antikapitalistischen Demonstrationen hinaus. Niemand bestreitet in der Doku dass es seinerzeit auch zu gewalttätigen Ausschreitungen und Randalen gekommen ist. Allerdings haben viele Beteiligte auch das Vorgehen der Polizei als unverhältnismäßig empfunden.

Gleichfalls in Hamburg ist eine Aktivistin aktiv, die anonym bleiben möchte, sie hilft in einem Netzwerk geflüchteten Frauen, die bei ihrer Ankunft in Hamburg in einem Auffanglager landen und dort kaum Einflussmöglichkeiten auf ihre Situation haben. Der Umgang mit Geflüchteten ist ebenfalls ein großer Themenkomplex in der antikapitalistischen Szene. Die die postkolonialistische Theorie sieht eindeutig Zusammenhänge zwischen der kapitalistischen Globalisierung und der Wirtschaftsmigration gerade aus Afrika heraus.

„Das deutsche System ist niemandes Freund. Schon gar nicht der der Geflüchteten.“

Doch die Ausbeutung geht auch hierzulande weiter. In schlecht bezahlten Jobs und ohne Arbeitnehmervertretung finden sich viele Menschen mit migrantischem Hintergrund wieder, da ihnen wenig Möglichkeiten bleiben. Ein Lieferservice wie Gorillas, der mittlerweile seit Mitte 2024 eingestellt ist, erlaubt keine Streiks der Mitarbeiter. Und weil diese nicht gewerkschaftlich organisiert sind, gilt ihr Arbeitsausstand als nicht legal. Denn nach dem restriktiven, von Nipperdey geschaffenen deutschen Streikrecht gilt das als nicht erlaubter politischer Streik.

Auch in Nordrhein-Westfalen soll (während der Doku) das Streikrecht reformiert und damit (quasi) ausgehebelt und beschnitten werden. Gewerkschaften gehen in bundesweiten Aktionen dagegen vor und fordern Zivilcourage ein, bevor die Rechte der Bürger nur noch auf dem Papier bestehen.

Letztlich weißt die Doku „Wir sind so frei“ auch noch darauf hin, wie sich der internationale Konzernkapitalismus nach Meinung einiger globalisierungskritischer Wissenschaftler und Politiker wie etwas Jean Ziegler und John Holloway entwickelt und seine Bestrebungen der Profitmaximierung immer weiter auf die Spitze treibt. Die Frage bleibt: „Wie können wir die Herrschaft des Geldes abhalten die Zukunft der Menschheit zu zerstören?“ (Holloway)

„Ich mag das Wort Sozialpartnerschaft.“

Es gibt viel zu gucken und zu diskutieren in „Wir sind so frei“. Die dargestellten Standpunkte sind durchaus fundiert und keineswegs in anarchisch krawalliger Antihaltung polemisiert. Hier werden zum Zwecke der politischen Bildung Fragen aufgeworfen, die ebenso legitim wie notwendig sind und zugleich aufzeigen, dass George Orwells Dystopie „1984“ in großen Teilen schon längst von der Wirklichkeit überholt worden ist.

Formal stehen die Regisseure Christian Lehmann-Feddersen und Alf Schreiber in den Credits, aber auch Rasmus Gerlach, der in der Vergangenheit kritische Dokus gedreht hat, ist zumindest konzeptionell eingebunden, bei dem, was die „No Doubt Media“ Produktionsgesellschaft als kollektive Langzeitdoku vorstellt. Ernüchternd ist die Doku immer dann, wenn vermeintlich ganz „normale Bürger:innen“ zu der Aussage kommen, der Kontakt mit Staatsmacht und Rechtssystem hätte ihre demokratischen Überzeugungen schon erschüttert. Und das sind leider keine Einzelfälle.

Cineastisch sollen hier keine Experimente und visuellen Schätze präsentiert werden. Der Doku geht es darum etwas aufzuzeigen und auch eine Haltung sichtbar zu machen. Das erfordert ein anderes Filmemachen, das aber ebenso fundiert, handwerklich gelungen und inhaltlich legitim ist.

Der Eindruck entsteht, dass jene, die gegen die herrschende Machtpolitik und den globalisierten, profitmaximierenden Kapitalismus in Opposition gehen, über Gebühr mit Repressionen zu rechnen haben. Das sollte einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft und jede:r einzelnen zu denken geben, unabhängig davon, wo mensch sich politisch einordnet. Protest ist legitim, ein alternativer Lebensentwurf ebenso und Freiheit ist und bleibt nach Rosa Luxemburg „immer die Freiheit der anders Denkenden. „Wir sind so frei“ liefert Einblicke zur politischen Bildung.

Wir sind so frei
OT: Wir sind so frei
Genre: Doku, Politik, Gesellschaft
Länge: 97 Minuten, D, 2024
Regie: Christian Lehmann-Feddersen & Alf Schreiber
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Drop-out Cinema
Kinostart: 05.09.2024

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G20-Gipfel in Hamburg bei Wikipedia
Wikipedia-Eintrag zu Jean Ziegler
„Politik der Feindschaft“ bei Suhrkamp
Filmpremiere mit Gästen im Hamburger 3001 Kino am 5.9.2024

Tagesschau-Bbericht um Rondenbarg-Urteil vom 3.9.2024