Ansichten am Donnerstag # 52: Das große Missverständnis

Der Dokumentarfilm boomt (2011) und hat zumindest auf heimischen Leinwänden seinen Sendeplatz wiedergefunden. Doch mit der Kino-Wiederauferstehung der Dokus wachsen auch die Irritationen. Muss eine Doku ausgewogen sein? Anleitung zum Gebrauch des Dokumentarfilms:

Zur Zeit sind einige Dokumentarfilme auf dem Markt, die durchaus kontrovers diskutiert werden: „Joschka und Herr Fischer“ gibt dem Ex-Politiker übermäßig Raum zur Selbstdarstellung. Die dänische Afghanistan-Doku „Camp Armadillo“ ist aufgebaut wie „Platoon“ oder „The Deer Hunter“. Die Regisseure von „Benda Bilili“ hauen ihr eigenes Geld raus, um der kongolesischen Band die Plattenaufnahmen zu ermöglichen, die im Film dokumentiert werden. Die Death Metal Doku „Until the Light Takes us“ lässt quasi-faschistoide Kommentare eines verurteilten Mörders unkommentiert stehen.

Ist das alles so in Ordnung? Muss der Dokumentarfilm nicht objektiv sein? Darf ein Doku-Filmer einen Standpunkt haben und den auch im Bild umsetzten? Muss man die Zuschauer anleiten oder zumindest vorab informieren?

Und hier geht das große Missverständnis los: Ein Dokumentarfilm ist zuallererst ein Kunstwerk und eben keine journalistische Arbeit. Die Doku ist weder eine Reportage noch eine nachrichtenartige Ansammlung von Fakten, es ist eine Kunstform. Wenn der Zuschauer und der Kritiker das erstmal akzeptiert und auch im Kopf behält, dann wird aus dem Dokumentarfilm auch ein filmisches Vergnügen, auf der Suche nach Wahrheit. Die Wahrheit gepachtet hat dies Vergnügen allerdings nicht. Hat es aber auch nicht behauptet. Anders die journalistische Reportage oder Nachricht: Hier ist man der faktischen Überprüfbarkeit verpflichtet.

Eine Doku ist keine Reportage

Banksys „Exit Through The Gift Shop“ spielt so wahnsinnig mit diesem Rollenverständnis, dass lange Zeit nicht klar ist, ob es sich tatsächlich um eine Doku oder um eine komplett ersponnene Thematik handelt, die nur in Gestalt einer Doku daher kommt, eine Mockumentary.

Dokumentarfilmer verfolgen, wie jeder Kreative, mit ihrer Arbeit eine Absicht und die ist genauso subjektiv wie die Sichtweise auf den beleuchteten Gegenstand. Sobald Menschen im Dokumentarfilm auftauchen, ist ein gewisses Vertrauensverhältnis zu dem Filmteam unabdingbar, um hinter die bloßen Fakten, das Offensichtliche, das Bekannte zu schauen. Dann geht eben das Journalistisch-Kritische flöten, na und? Darum ging es sowieso nicht.

Filmgroßmeister Eisenstein brachte das schon 1925 auf den Punkt (zitiert nach Wikipedia):
„Für mich ist es ziemlich egal, mit welchen Mitteln ein Film arbeitet, ob er ein Schauspielerfilm ist mit inszenierten Bildern oder ein Dokumentarfilm. In einem guten Film geht es um die Wahrheit, nicht um die Wirklichkeit.“

Ein guter Dokumentarfilm, ein guter Film, ist der Anfang einer Auseinandersetzung, die eine Beschäftigung mit dem portraitierten Gegenstand in Gang setzt und keinesfalls das allgemeingültige letzte Statement zu einer Sache. Das ist das Wunderbare daran.

Manchmal kommen dabei trotzdem filmische Denkmäler heraus, aber die kann man auch wieder umstürzen.

Viel Spaß im Kino

(ursprünglich veröffentlicht bei Cinetrend.de, 24.05.2011)