Gerade erst hat die Geberkonferenz im Brüssel weitere Milliardenhilfen für die Menschen in Syrien beschlossen. Dort tobt seit 2011 ein Bürgerkrieg. Dokumentarfilmer Dror Moreh gab der Konflikt in Syrien seinerzeit einen Auslöser für die Doku „Kulissen der Macht“ die am 30. Mai 2024 in die Kinos kommt. Der Film betrachtet die Genozide und systematischen Gräuel seit dem Ende des Kalten Krieges und stellt anhand von Interviews mit hochrangigen US-Politikern die Frage nach dem Einfluss und der Macht der USA jeweils militärisch einzugreifen. Weil „Kulissen der Macht“ die Gräuel mit drastisch Archivmaterial veranschaulicht, schickt der Filmverleih eine entsprechende Inhaltswarnung voraus, die das Publikum durchaus beherzigen sollte. Anregungen zum Nach- und Weiterdenken liefert „Kulissen der Macht“ zur Genüge.
„Inhaltswarnung: Dieser Dokumentarfilm enthält Archivmaterial, das zum Teil brutale und explizite Gewaltdarstellungen wie körperliche Übergriffe und Verletzungen sowie Bilder von Leid und Verlust enthält. Der Inhalt kann für sensible Zuschauer*innen verstörend und belastend sein, insbesondere für diejenigen, die ein Trauma im Zusammenhang mit Gewalt erlebt haben. Bitte überlegen Sie, ob der Film zu diesem Zeitpunkt für Sie geeignet ist.“
Es beginnt mit der Feststellung, dass die Alliierten bereits im Jahr 1944 von den deutschen Vernichtungslagern wussten. Was die Frage aufwirft, warum diese Infrastruktur des Grauens nicht angegriffen und /oder zerstört wurde? Vor allem, weil nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vielstimmig ein „Nie wieder!“ zu hören war. Nie wieder sollten systematische Gräueltaten und Genozide hingenommen werden.
Eine neue Weltordnung?
Der kalte Krieg als Gleichgewicht des Schreckens zwischen dem Westlichen und dem östlichen Bündnis, die sich um die Supermächte USA und UdSSR geschart haben, machten globale Interventionspolitik lange hochkomplex. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstand eine neue Weltordnung mit den USA als einzige verbliebene Supermacht. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR kamen aber auch überall auf der Welt regionale, ethnische Konflikte zum Vorschein. So etwa im ehemaligen Jugoslawien oder auch in Afrika.
Große Macht bedeute auch viel Verantwortung, sagt einer interviewten Experten. Doch der ehemalige obererste Militärberater und spätere Außenminister Colin Powell sagt auch, dass die USA keine Weltpolizei seien. Gleichwohl habe sich die Nation den Werten des Friedens und der Freiheit weltweit verschreiben und deren Schutz. Im Übrigen werde die Supermacht ohnehin von der Staatengemeinschaft angefragt, etwas zu unternehmen.
Aufgrund dieser Voraussetzungen betrachtet „Kulissen der Macht“ (OT: „Corridors of Power“) die ethnischen Konflikte der letzten Jahrzehnte. Es beginnt mit dem Krieg in ethnischen Säuberungen in Bosnien und endet mit den systematischen Giftgaseinsätzen der Regierung gegen die Rebellen in Syrien.
Eine Weltpolizei?
Zu Dror Morehs Doku ließe sich auf unterschiedlichsten Ebenen vieles anmerken oder diskutieren. im Grunde läuft es inhaltlich auf das Dilemma hinaus, wie die Menschheit und die Staaten mit Völkermord und den Verbrechen gegen die Menschlichkeit umgehen will und kann. Das hat sowohl eine ethisch / moralische Ebene als auch machtpolitische / militärische Aspekte, die es in der jeweiligen Situation abzuwägen gilt.
Das soll keineswegs dafür argumentieren, sich kategorisch herauszuhalten und zuzuschauen, und dennoch erfolgt aus dem moralischen imperativ des „Nie wieder!“ nicht zwangsläufig eine (militärische) Handlungsverpflichtung zur Intervention. Das Dilemma lässt sich nicht lösen. Der Film diskutiert und analysiert das in der Rückschau mit den seinerzeit beteiligten Entscheider:innen. Die Interviews sind einerseits sehr engagiert, andererseits in der Analyse auch sehr ernüchtert.
Hochrangige Gesprächspartner
„Kulissen der Macht“ lässt sich ganz auf die amerikanische Sichtweise ein. Das schließt explizit und gerade im Fall von Lybien und Syrien, die beiden aktuellsten Beispiele der Doku Kritik an den europäischen Verbündeten ein. Diese waren in Lybien, wo die USA intervenierte, als Ghaddafi die eigene Bevölkerung systematisch vernichtete, nicht in der Lage nach dem Krieg für Stabilität zu sorgen, obwohl sie das zugesagt hätten.
In Syrien nun wieder hatte der damalige US-Präsident ganz klar eine rote Linie markiert, die mit dem Einsatz von Giftgas überschritten wurde. Dennoch kam es nicht zur Intervention, auch weil sich Russland auf der Bühne der Weltpolitik zurückgemeldet hatte und in Syrien das regierende Assad Regime unterstützte. Ein neues Gleichgewicht des Schreckens bahnte sich an.
Ob und wie weit die Lehren der Vergangenheit auf die aktuellen und kommenden ethnischen, religiösen oder sonstwie gearteten menschenverachtenden Konflikte anwenden lassen, scheint gegen Ende der Doku und bei der Betrachtung der aktuellen globalen Lage eher ernüchternd als zuversichtlich.
Archivbilder voller Grauen
„Kulissen der Macht“ gibt erstaunlich hochkarätige Einblicke und hat eine Vielzahl von Expert:innen und Entscheider:innen vor die Kamera bekommen. Das ist beachtlich und ziemlich einmalig und sehr sehenswert. Auch die entscheidenden Sitzungen macht die Doku mittels Computer animierter Fotomontagen lebendig und anschaulich, fast so als säße das Publikum in den Fluren und Zimmern der Macht. Zudem sind die Interviews sehr dezent gefilmt.
Ganz anders das Archivmaterial zu den thematisierten Genoziden, systematischen menschlichen Gräueltaten und ethnischen Säuberungen. Das geht weit hinaus über Bilder, die in einer Nachrichtensendung zu sehen sind, und ist auch in der Menge und Konsequenz schlicht scheußlich und schwer zu ertragen. Die Bilder sind von schlechter Qualität und aus dem Leben gegriffen. Der Kontrast ist gewollt und stellt das Publikum so vor dieselbe Frage, die sich auch die Entscheider:innen stellen angesichts des menschlichen Leids: Weiter zuschauen? Oder handeln und es beenden?
„Kulissen der Macht“ ist ein ebenso aufrüttelnder wie wichtiger Film. Das Publikum muss weder jede Regieentscheidung noch den Betrachtungsrahmen umfänglich gutheißen, um daraus Ansätze für einen immer noch und immer wieder wichtigen Diskurs zu finden. Macht zu haben und sie nicht einzusetzen, mag man für unverantwortlich halten. Aber auch das ist nur eine Sichtweise. Die Archivbilder sind erschütternd und sollten nicht unvorbereitet angesehen werden.
Kulissen der Macht
OT: Corridors of Power
Genre: Doku, Geopolitik
Länge: 135 Minuten, USA, 2023
Regie: Dror Moreh
Mitwirkende: Madeleine Albright, Anthony Blinken, Samantha Powers
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Films That Matter
Kinostart: 30.05.2024