Linoleum – Das All und all das: Probleme im Transport

In dem amerikanischen Independent-Film „Linoleum“ gerät ein Wissenschaftler in eine Lebenskrise und fragt sich, wohin all seine Träume verschwunden sind. Das Filmdebut von Autorenfilmer Colin West ist ebenso eigenwillig wie schön und überraschend und sehenswert besetzt. Camino bringt „Linoleum“ seit dem 15.Februar 2024 in die Kinos.

Mittvierziger Cameron Edwin (Jim Gaffigan) ist Astronom und moderiert seit Jahren eine Wissenschaftssendung für Kinder. Die wird auf einem lokalen Fernseh-Sender in einer amerikanischen Kleinstadt ausgestrahlt, in der Cameron und seine Familie auch leben. Ehrlich gesagt, läuft es für Cameron gerade nicht so gut. Statt wie versprochen einen Samstagssendeplatz zu organisieren, hat der Sender hat sein Format ins Nachtprogramm verlegt.

Die Ehe mit Erin (Rhea Seeehorn) läuft momentan auch eher auf Autopilot. Die Gattin, selbst Physikerin, hat bereits länger das Gefühl sie müsse die Familie mit ihrem Job im Wissenschaftsmuseum alleine tragen. Tochter Nora (Katelyn Nacon) ist mitten in der Pubertät und hat andere Sachen im Kopf als Vater Cameron aufzubauen. Zudem verschlechtert sich der Demenzzustand Camerons Vater immer mehr. Der lebt zwar bereits im Heim, verfällt aber zusehends.

Astronomen und Astronauten

Als Cameron eines Tages mal wieder eine Bewerbung bei der NASA in den Postkasten wirft, stürzt ein Sportwagen vom Himmel. Der verunglückte Fahrer sieht Cameron erstaunlich ähnlich, nur jünger. Wenig später crasht auch noch ein vermeintlicher russischer Satellit in Camerons Garten und die Familie wird von FBI, das sich nie wieder blicken lässt, ausquartiert.

Kurz darauf übernimmt ein neuer Moderator Camerons Wissenschaftssendung, ausgerechnet jener verunfallte Autofahrer. Der erfolgreiche „Doppelgänger“ (Jim Gaffigan) übernimmt nicht nur die Show, er zieht auch bei Cameron gegenüber ein und entpuppt sich als arroganter Stinkstiefel. Doch dessen Sohn Marc (Gabriel Rush) scheint nett zu sein. Er bittet Cameron den Satelliten angucken zu dürfen und gibt ihm sogar noch den Impuls, aus den Resten selbst eine Rakete zu bauen. Nora und Marc lernen sich in der Schule kennen und scheinen in ihrer Zurückgezogenheit ganz gut miteinander auszukommen.

Im amerikanischen Kino sieht das Publikum so gut wie nie, dass sich Erwachsene mit dem Fahrrad fortbewegen. Außer vielleicht, es handelt sich um ein Fitnessgerät oder einen Job als Fahrradkurier. Das bevorzugte Verkehrsmittel ist das Auto, in Metropolen auch mal das öffentliche Verkehrsnetz. Kinder hingegen fahren im amerikanischen Filmen oft und gerne mit Rädern durch die Gegend. Auch und bevorzugt, wenn Ferien und Abenteuer zu erleben sind.

Kindheitsträume und Erwachsenenpflichten

„Linoleum“ beginnt damit, dass Cameron mit dem Fahrrad zum Briefkasten fährt. Wie er auch damit zur Arbeit und zum Einkaufen fährt. Das ist entweder ganz schon ökologisch, oder ziemlich europäisch, oder ein Hinweis darauf, dass in „Linoleum“ etwas anders läuft als das Publikum es erwarten würde.

Und tatsächlich erlebt Cameron in einer Lebensphase, die sich durchaus wie eine Midlife-Crisis buchstabieren lässt, auch noch seltsame Deja-vus und wird quasi als Treppenwitz des Universums mit einer Version 2.0 von sich selbst konfrontiert. Der neue Nachbar scheint‘s drauf zu haben; alles das, woran der kriselnde Cameron gerade scheitert.

Und so verwebt Autor und Regisseur Colin West in seinem Spielfilm-Debüt einige Themen und Handlungen, die Camerons Krise ausmachen, zu einem sehenswerten Kleinstadt- oder Vorstadtmilieu. Das wirft einen eigenen und sehr unterhaltsamen Blick auf das Leben und den ganzen Rest, oder auch auf „Das All und all das“. Dabei fasziniert die etwas verschrobene Konstellation mit dem Doppelgänger und sorgt dafür, dass ein konstantes Irritationsmoment das Publikum bei der Stange hält.

Allerdings nehmen Cameron und seine Familie schnell für sich ein, und das geneigte Publikum kann sich einfach zurücklehnen und den sympathischen Charakteren beim Tun und Hadern zuschauen. Möglicherweise ist der Hinweis angebracht, dass bei dieser Art von Film, die nicht von Action und Schauwerten getrieben ist, immer wichtig ist, wo sie den oder die Einzelne abholt.

Womit sich das Thema Transportwesen wieder ins Licht rückt. Die „auf Fortbewegung beruhend Ortsveränderung von Gütern und Personen (etc.)“ (Wikipedia) gerät in „Linoleum“ immer wieder ins Stocken. Sei es durch verunfallende Transportmittel, oder im übertragenen Sinne durch Haltestellen auf dem Lebensweg, oder im kommunikativen Bereich durch Warteschleifen der Erinnerung.

„So einfach ist das alles nicht.“ „Vielleicht doch?“

Nicht jeder mag sich in der Sorge um den alten Vater wiederfinden, nicht jede sich in der jugendlichen Romanze. Nicht jede mag das Karriereloch spüren oder den Verlust der Kindheitsträume betrauern. „Linoleum“ ist so hinreißend, weil aus den Teilaspekten etwas erwächst, das man einfach Leben nennen könnte.

Das zu beobachten auf vielen, gleichermaßen wohl ausgeformten Ebenen und mit unterschiedlichen Blickwinkeln ist schon außergewöhnlich. Und längst nicht immer so überzeugend wie in „Linoleum“. Wenn sich das Publikum nach Verlassen des Kinodunkels selbst fragt, ob „es“ nicht doch viel einfacher ist, als gedacht, ist für die Hoffnung in der Freude am Leben vielleicht schon viel gewonnen.

Der liebenswerte Mikrokosmos von Wissenschaftsmoderator Cameron entführt das Publikum auf die Suche nach dem Fantastischen im Leben. Mehr kann niemand erwarten. Außer einem großartigen Cast und hinreißender Musik von Mark Hadley. „Linoleum“ ist amerikanisches Indie-Kino wie es sein sollte: verschroben, familiär und immer den großen Themen des Lebens auf der Spur.

Film-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Linoleum – Das All und all das
OT: Linoleum
Genre: Komödie, Sci-Fi, Drama,
Länge: 102 Minuten, USA, 2022
Regie: Colin West
Darsteller:innen: Jim Gaffigan, Katelyn Nacon, Gabriel Rush, Rhea Seehorn
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Camino Films
Kinostart: 15.02.2024