Auf den Filmfestivals der Welt hat Andrew Haighs Drama „All of Us Strangers“ bereits für Kritikerbegeisterung gesorgt. Nun kommt das ruhige, bisweilen verstörendes Drama um einen allein stehenden Drehbuchautoren hierzulande am 8. Februar 2024 in die Kinos. Hauptdarsteller Andrew Scott scheint sich in der Rolle zu verlieren wie seine Figur in der Wirklichkeit.
Drehbuchautor Adam (Andrew Scott) lebt in einem fast leerstehenden Hochhaus in London. Bei einem Feueralarm, der sich als falscher Alarm herausstellt, ist er der einzige, der das Gebäude verlassen hat. Doch er wird aus einem Fenster beobachtet. Während Adam in einer Schreibblockade feststeckt, klingelt der angeschiggerte Nachbar Harry (Paul Mescal) und gesteht Adam, dass er sich im Gebäude ziemlich einsam fühlt. Doch Adam wagt nicht den Fremden hineinzulassen.
Einige Tage später macht Adam einen Ausflug in die Wohngegend seiner Kindheit. während er die alten Orte abklappert und durch seine Kindheit spaziert, wird er von jemandem aufgefordert, ihm zu folgen. Zu Pauls Erstaunen, kommt er im Haus seiner Eltern an. Seine Eltern, Mum (Claire Foy) und Dad (Jamie Bell), sind im gleichen Alter wie Adam heute. Und scheinbar sehen ihn die Eltern ebenfalls als Erwachsenen. Zurück im Hochhaus geht Adam auf Harry zu und aus den beiden wird ein Paar.
„Maybe I didn’t treat you Quite as good as I should…
Die Einsamkeit prägt „All of us Strangers“ mindestens ebenso stark wie das Gefühl, dass hier etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Dass der zunächst einzige Bewohner eines modernen Hochhauskomplexes auch noch eine Schreibblockade hat und sich minutenlang dialoglos durch das Bild bewegt, ist schon eigenartig.
Freilich kommt mit dem Musiker Harry etwas Leben in die Bude und in Adams Alltag. Und mit Adams Ausflügen auch Erinnerung und Fantasie ins Spiel. Zumindest hat es den Anschein. Es bleibt lange unklar und damit faszinierend, welche Erzählhaltung „All of us Strangers“ einnimmt. Bis dann der Zeitpunkt kommt, an dem das Publikum sich schon fragen muss, was an der Geschichte eigentlich Wahrheit und was Einbildung ist? Oder ob das überhaupt von Belang ist? Und ob der „Erzähler“ vertrauenswürdig ist.
…Maybe I didn’t love you Quite as often as I could…
Andrew Haigh ist ein sensibler Filmmacher, der bereits mit „45 Years“ (2015) gezeigt hat, wie sich Beziehung und Einsamkeit mit sehr überschaubarer Besetzung, quasi als Kammerspiel, faszinierend auf die Leinwand bannen lassen. In gewisser Weise steht das Darsteller-Duo Andrew Scott und Paul Mescal jenem alten Ehepaar Charlotte Rampling und Tom Courtenay in wenig nach.
Die Inszenierung ist stilsicher, melancholisch betörend und mit leisen Zwischentönen. Zwei Aspekte machen „All of us Strangers“ außergewöhnlich. Zum einen zeigt der Film eine homosexuelle Liebesbeziehung. Das ist an sich und heutzutage nichts Ungewöhnliches, im so genannten Mainstream-Kino allerdings noch immer eine Ausnahme und Seltenheit. Es gelingt üblicher Wiese nur ein breites Publikum zu gewinnen, wenn das Feel-Good-Momentum groß genug ist etwa in „Bohemian Rhapsodie“ oder in dem Bergarbeiter-Protest in „Pride“. Insofern ist und bleibt „All of us Strangers“ auch wagemutig.
„…Little things I should have said and done, I never took the time…“
Zum zweiten handelt es sich bei „All of us Strangers“ eigentlich um eine Literaturadaption. Ende der 1980 Jahre veröffentlichte der japanische Autor und Drehbuchschreiber Taichi Yamada den Roman „Ijintachi to no natsu“, was übersetzt soviel heißt wie „Sommer mit tollen Leuten“. Das Buch wurde ausgezeichnet und als „Strangers“ ins Englische übersetzt. Die deutsche Übersetzung „Sommer mit Fremden“ erschien erst 2007 bei Goldmann. Yamada ist im Herbst 2023 kurz vor den internationalen Kinostarts von „All of us Strangers“ in hohem Alter verstorben.
Andrew Haigh hat sich bei der Aneignung der Romanvorlage einige Freiheiten genommen. So etwa die andere familiäre Stellung des Protagonisten. Auch scheint im Roman lange nicht klar, wer diese elternähnlichen Bekanntschaften sind. Und die Erzählzeiten wurden an die Gegenwart angepasst, sowie der Ort von Tokio nach London verlegt wurde. Haigh hat die Geschichte personalisiert und zeitgemäßer gemacht. Ob das noch werktreu genug ist, um als Literaturverfilmung durchzugehen, muss jeder selbst entscheiden. Allerdings ist das Element der Vereinsamung im urbanen Umfeld deutlich besser verständlich, wenn es im japanischen Kulturkontext auftaucht. Kleine Randbemerkung dazu: „Sommer mit Fremden“ musste (oder durfte) bereits kurz nach Romanerscheinen als Vorlage für einen japanischen Horrorfilm herhalten.
„…You were always on my mind. You were always on my mind“ (Pet Shop Boys)
Letztlich steht zumindest der Rezensent auf dem Standpunkt, dass jedes „Kunstwerk“ für sich selbst stehen sollte, egal woher es Inspiration oder Thema bezieht. in dieser Hinsicht ist „All of Us Strangers“ in mehrerer Hinsicht ebenso packend wie betörend wie beklemmend, funktioniert in einigen Subtexten und auf mehreren Bedeutungsebenen und lässt zum Ende mehrere Deutungen zu. Was mag das geneigte Publikum mehr fordern?
Als Literaturverfilmung von Taichi Yamadas „Sommer mit Fremden“ geht „All of us Strangers“ nur bedingt durch. Dafür sind die Storymodifikationen von Regisseur Andrew Haigh zu gravierend. Als eigenständiger Film ist das sehr stringend. Und mysteriös genug, dass sich das Publikum lange genug darüber grübeln kann. Aber wie heißt es so schön: „Der Roman erhält durch die Drehbuchadaption eine zeitgenössische und persönliche Note.“
Film-Wertung: (8 / 10)
All of us Strangers
OT: All of us Strangers
Genre: Drama
Länge: 105 Minuten, USA, 2023
Regie: Andrew Haigh
Darsteller: Andrew Scott, Claire Foy, Jamie Bell, Paul Mescal
Vorlage: Roman „Sommer mit Fremden“ (OT: Ijintachi to no natsu (異人たちとの夏)) von Taichi Yamada
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Walt Disney Pictures (Searchlight)
Kinostart: 08.02,.2024
© Moviestills Courtesy of Searchlight Pictures20th Century Studios