Ein Comic des belgischen Künstler-Teams Benoit Peters und Francois Schuiten ist immer ein Erlebnis. Und oft genug ein Meilenstein des literarischen Comics. Wer hätte gedacht, dass „Die geheimnisvollen Städte“ noch einmal Zuwachs bekommen. Nun ist bei Schreiber & Leser – wie immer in toller Ausstattung – die Gesamtausgabe von „Nach Paris“ erschienen.
Es ist ein bisschen tricky, die Gesamtausgabe inhaltlich zusammenhängend vorzustellen. Die beiden Teile sind recht unterschiedlich und ein bisschen Spannung geht schon flöten, wenn die Kapitel zusammenhängend vorgestellt werden. Im ersten Teil „Utopiomane“ geht es um die Reise zur Erde. Erst im zweiten Teil „Sternenacht“ um die Erkundung von Paris. Andererseits ist die Handlung soweit auch schon in Schreiber & Lesers Magazinen nachzulesen.
Für die Leser: innen beginnt die Reise früher als für die Protagonistin Karinh. Den im Jahr 2155 muss sie noch warten, um für den Trip zur Erde akzeptiert zu werden. Zahlreiche Tests und Interviews stehen der jungen Frau bevor, die fasziniert ist von Paris. Doch endlich wird sie Teil der Expedition und bekommt sogar die Verantwortung für etliche alte Passagiere. An Bord ist auch ihr Arzt Mihail.
„Etliche lassen mich gerne ziehen.“ (Karinh)
Von der künstlichen Raumstation „Arche“ auf der ein Teil der Menschheit lebt, geht es mit einem alten, wieder flottgemachten Raumschiff in monatelanger Reise zurück zur Erde. Karinh ist Bordoffizierin und für Wartungsarbeiten zuständig, währen die anderen Reisenden künstlich in Tiefschlaf sind. Doch Karinh träumt mittels einer Droge von ihrem Ziel und vernachlässigt ihre Aufgaben. Die Mission kommt letztlich heil auf der Erde an, weil Mihail übernimmt.
Für Karinh allerdings geht der Weg nach Paris weiter wie es auf der Arche begann. Sie wird an der Grenze zur Stadt eingesperrt und verhört, bis die Herrschenden hier auf der Erde sicher sind, dass sie keine Gefahr darstellt. Die Bewohner der Arche hätte sie zum Schaden der Erde herschicken können.
Irgendwann steht es Karinh frei zu gehen und durch unwirtliche Gegenden nähert sie sich ihrem Paris. Unterwegs wird sie von einem neugierigen Menschen verfolgt und trifft auf einen Archivar, der Teile der Metropole aufbewahrt. Und dann geht es in die Stadt…
Ich gestehe, dass es mich bereits in den Fingern gejuckt hat, die beiden Einzelbände von „Nach Paris“ vorzustellen. Aber nicht immer sind Kapazitäten frei. Band 1 nennt sich „Utopiomane“ und erschein als deutsche Erstveröffentlichung im Oktober 2015. Band zwei, betitelt „Sternennacht“, erschien im Januar 2017. Nun bin ich froh, mich seinerzeit geduldet zu haben. Auch das umfassende Bonusmaterial, das eventuell schon im zweiten Teil veröffentlicht war, kann sich sehen lassen.
„Ich habe mich allerdings auch ziemlich unbeliebt gemacht.“ (Karinh)
Der lose verknüpfte Comic-Zyklus „Die geheimnisvollen Städte“ wurde von Szenarist Benoit Peters und Illustrator Francois Schuiten bereits zu Beginn der 1980er Jahre ersonnen. Bei brutstatt.de wurden einige Titel vorgestellt, die im Zuge der schön ausgestatteten Neuauflage bei Schreiber & Leser wiederveröffentlicht wurden. Immer geht es um eine kunstvolle fantastische Auseinandersetzung mit Architektur und Baugeschichte und immer sind die Erzählungen etwas kafkaesk, in dem Sinne, dass die Charaktere sich diffusen Kräften ausgesetzt sehen, die die Geschicke zu lenken scheinen.
„Nach Paris“ fügt sich von den großen Themen her nahtlos in den Zyklus und ist doch anders. Im ersten Teil „Utopiomane“ lässt sich die künstliche Lebewelt sowohl als Ort denn als Fahrzeug begreifen. Und auf Karinhs Reise geht es vor allem um den Impuls (oder die Illusion?) der Bewegung, ohne dass die Umgebung des Raumschiffes großartig in Szene gesetzt würde.
Stattdessen das alte, imaginierte Paris. Ein Sehnsuchtsort zu dem Karinh mittels der traumbefördernden Drogen beinahe Interaktiv reisen kann. Das hat schon Suchtpotential und auch etwas von einer fortgeschrittenen Virtuellen Realität. Wer kann schon mit Amadeus von Croissy, Aquatiker und Lithograf, auf einem Luftschiff reiten?
Unterschiedliche Sphären einer Stadt
Doch diese Reise ist auch ein Erstasten und Variieren von Paris. Sobald Karinh von ihrem jungen Taxifahrer Coy auf sein Boot gelotst wird, ändert sich die Umgebung und auch die Stimmung der Illustrationen. Es ist beinahe klassische Science-Fiction wie das Boot durch überflutete Straßen und zwischen riesigen Artefakten gleitet. Dann wieder Projektionen von Pariser Motiven in riesigen Ballons konserviert. Traumblasen und Schneekugeln.
Je näher Karin der Stadt ihrer Träume kommt, desto unerreichbarer wird sie. Die Unwirtlichkeit der Städte war schon immer ein großes Thema bei Schuiten und Peters. In „Nach Paris“ werden die Auflösung, die Zerstückelung, die Unwirklichkeit und die Klischees der Stadt auf faszinierende Weise immer wieder gespiegelt und variert, bis dieses Paris zu einer Idee verkommt. Oder transzendiert wird. Je nachdem. Archivierte Bauwerke.
Dabei helfen die großen realen Stadtplaner ebenso wie die proto-utopischen Visionen des Jules Verne. Im von Benoit Peeters kommentierten Anhang finden sich einige erhellende Aspekte zu der Geschichte und ihren Einflüssen.
Und dann ist der Mensch mit der Realität und seiner Wahrnehmung konfrontiert und überall scheint es besser als dort wo mensch gerade ist. Trefflicher als Karinh kann man es nicht ausdrücken, als sie erneut von Substanzen induziert von der Arche fantasiert: „Ich hatte vergessen wie schön es hier ist.“
So vielschichtig und mehrdeutig waren „Die geheimnisvollen Städte“ noch nie. „Nach Paris“ ist mehr als ein visionärer, phantastischer Blick auf die französische Hauptstadt. Es ist Loblied und Schwanengesang auf eine der größten Errungenschaften der Zivilisation: Das Phänomen, das irrwitzig vielschichtiges Gemeinwesen, das hochkomplexe soziale Wesen, das wir Stadt nennen.
Comic-Wertung: (9 / 10)
Nach Paris – Gesamtausgabe
OT: Revoir Paris, Casterman, 1987, 2009
Aus der Reihe: Die geheimnisvollen Städte
Autor: Benoît Peeters
Zeichnung: François Schuiten
Übersetzung: Resl Rebiersch , Ömür Gül
ISBN: 978-3-96582-121-7
Verlag: Schreiber & Leser, Hardcover, 144 Seiten.
VÖ: 01.02.2023
Die geheimen Städte bei Wikipedia