„Ein Schweizer Sommer der Anarchie“ nennt Regisseur Cyrill Schäublin sein historisches Drama, das bei der Berlinale 2022 in der Reihe „Encounters“ Weltpremiere feierte und einen Regiepreis einheimste. „Unruh“ erzählt von den Arbeitsbedingungen der Schweizer Uhrmacher in den 1870ern und von der Begegnung mit einem (später) weltberühmten Anarchisten – Pjotr Kropotkin. Ein Regiepreis bedeutet allerdings nicht zwangsweise, dass ein zugänglicher Film entstanden ist. In Schäublins zweitem Spielfilm hat das Sperrige Methode. Ab 5. Januar 2023 im Kino.
Der Ausflug in die historische Schweiz beginnt mit einem Damenkränzchen und er endet mit einem Damenkränzchen. Dazwischen hat sich die Welt beinahe unmerklich verändert und dennoch ticken die Uhren gleich und in dem Tal im Schweizer Jura-Gebirge, in dem sich die Uhrenfabrik befindet hat man sich noch immer nicht auf eine verbindliche Zeit geeinigt.
Josephine Gräbli (Klara Gostynski) arbeitet in der Uhrenfabrik des Fabrikanten Roulet (Valentin März). Dort ist sie für die Fertigung der Unruh in den Uhren zuständig. Jenes mechanische Herz des Uhrwerks, das aus einer auf einem Rad gelagerten Feder besteht.
Eines Tages im Jahr 1877 soll zu Werbezwecken ein eine Foto des Werks erstellt werden. Josephine ist auf dem Weg ihre Unruhen auszuliefern als sie im Ort einen Fremden trifft, der sie nach dem Weg fragt. Der Fremde ist der russische Kartograph Pjotr Kropotkin (Alexei Evstratov), der das Tal neu vermessen will.
„Wollen sie die Strecke abmessen?“
Statt den Weg zu beschreiben, nimmt Josephine Kropotkin mit, bis sie dem Fototermin durchs Bild laufen müssten. Ein Umweg ist unvermeidbar. Während später beide ihrer Beschäftigung nachgehen, kreuzen sich ihre Wege immer wieder. Die Arbeiterin ist in der anarchistischen Gewerkschaft organisiert und Kropotkin ist auch in die Schweiz gekommen, um sich die neue Sozialbewegung anzuschauen.
Der Untertitel des Films „Ein Schweizer Sommer der Anarchie“ mag sich auf Hans-Magnus Enzensbergers „Roman“ „Der kurze Sommer der Anarchie“ beziehen, der sich mit dem spanischen Anarchisten Buenaventura Durutti beschäftigt. Auch „Unruh“ versucht ein Zeitporträt jener historischen Phase zu fassen, in der Kropotkin seine Ideen des Anarchismus entwickelte. Nach eigener Aussage haben ihn vor allem die anarchistischen Uhrmacher in der Schweiz beeindruckt und beeinflusst.
Allerdings folgt der Spielfilm nicht dem Weg des bekannten Anarchisten, sondern viel eher jenem der Arbeiterin Josephine. Das mag auch daran liegen, dass dem Regisseur das Thema wegen der Arbeit seiner Großmutter in einer Uhrenfabrik ein persönliches Anliegen ist. Kropotkin taucht eher als Beobachter, als Randerscheinung in dem Mikrokosmos des Juratals auf.
„Unruh“ wird als Film nicht von Aktion getragen, sondern von beinahe tableauartigen Einstellungen und starker Dialoggetriebenheit. Außerdem verzichtet „Unruh“ komplett auf untermalende Musik. Das wirkt bisweilen etwas arg statisch, was zur Regie-Handschrift gehört. Das Publikum mag dazu nicht immer sofort einen Zugang finden, doch die formale Strenge hat ihren Reiz und ihre eigene Dynamik.
„Was verdienen wir dafür?“
Gelegentlich fühlt sich der Zuschauer bei all der gezeigten Kontrolle und Messung an die Orwell’sche Dystopie „1984“ erinnert. Bisweilen wirken die weißen Fabrikkittel wie im Sanatorium. Thomas Manns „Der Zauberberg“ (ebenfalls in der Schweiz) lässt grüßen.
In „Unruh“ gibt es einige Themen, die die historische Miniatur beleben. Neben den sozialen Unruhen sind dies die technische Neuerung der Fotografie und der Umgang mit der gemessenen Zeit. Diese Bestrebungen werden kunstvoll nebeneinander montiert und durchweben einander immer wieder.
Dabei entsteht ein durchaus detailreiches Bild des Lebens im Tal und des Arbeitsalltags. Kaum eine Einstellung, in der nicht irgendein Schutzmann eine Uhr stellt. Was auch nicht weiter verwundert, wenn im Tal vier verschiedene Zeiten verwendet werden, wie dem telegrafierenden Kropotkin mitgeteilt wird. Neben der Bahnhofszeit, die vom Telegrafen durchgegeben wird, gibt es die Gemeindezeit und die Lokalzeit. Schließlich ist im Uhrenwerk die Fabrikzeit das Maß aller Dinge. Und im Zweifelsfall besteht der Fabrikdirektor darauf, dass seine Zeit noch immer am Genauesten gehe.
Was dem modernen Menschen letztlich gleichgültig sein mag, da das Definitionskonzept „Zeit“ auch und vor allem eine soziale Übereinkunft ist. So auch die gesellschaftliche Organisation an sich. Während Leute, die ihre Gemeindesteuern schuldig bleiben, im Lokal nicht bedient werden dürfen, oder schwerwiegender sogar ins Zuchthaus müssen, bis ihre Steuern abgegolten sind, versuchen die Anarchisten sich solidarisch zu organisieren.
„Wir schlagen vor, dass diejenigen mit Wahlrecht ihre Stimmzettel mit einer Idee abgeben: Die Kommune.“
Es gibt eine Krankenversicherung für jene ledigen Frauen, die grundsätzlich nicht über die Fabrik versichert werden. Es gibt mehrheitliche Abstimmungen statt einer Rädelsführerschaft und sogar eine anarchistisch organisierte Uhrenmanufaktur.
Das alles ist durchaus interessant, auch wenn die Ideen des Anarchismus aktuell seit längerem nicht mehr relevant und dringlich scheinen. (dazu David Graebers: Direkte Aktion“) Andererseits weiß kaum noch jemand, dass der russische Adelige Pjotr Kropotkin Geograph und Kartograph war und dass eines seiner Hauptwerke, „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ (1902) als Gegenentwurf zu Darwins so anerkannter Evolutionstheorie vom „Survival of the Fittest“ entstand. Aber das würde nun zu weit führen.
Bisweilen kommen die Dialoge in „Unruh“ etwas behäbig zur Sache und wirken wie ausgestellte Erklärungen. Wie etwa zu beginn, als Kropotkins Cousinen sich in Jalta fotografieren lassen und sinnieren, welchen Ideen ihr Cousin nachjage. Fotografien sind übrigens in Mode und die Arbeiter:innen versorgen sich mit Porträts von prominenten Zeitgenossen. Und während der im Film gezeigten Tage steigt der Preis einiger Fotomotive, wegen zunehmender Bekanntheit. Angebot und Nachfrage im Juragebirge.
„Unruh“ ist ein leises Zeitporträt, eine historische Miniatur am Rande großer gesellschaftlicher Umbrüche und Innovationen. Das hat etwas Exemplarisches, wirkt aber gelegentlich etwas betulich. Vielleicht drücken großen Themen einfach auf die Leichtigkeit der Bilder.
Film-Wertung: (6 / 10)
Unruh
OT: Unrueh
Genre: Drama, Historisches,
Länge: 93 Minuten, CH, 2022
Regie: Cyril Schäublin
Darsteller: innen: Klara Gostynski, Valentin März, Alexei Evstratov
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Grand Film
Kinostart: 05.01.2023