Emily: Feuchtkalte Abgründe

Das literarische Schaffen der Schwestern Brontë hat zu vielen Spekulationen über das wenig bekannte Leben der Pfarrerskinder geführt. Bisweilen kommt eine neue biografische Beleuchtung zum Vorschein. So auch mit „Emily“, in deren Mittelpunkt zwar Emily Brontë als Sonderling inszeniert wird. Doch es geht in dem Drama auch um die Familienverhältnisse. Vor allem die eindringlichen Bilder wissen zu fesseln. Ab 24.11.2022 im Kino.

Es beginnt mit der alles durchdringenden Frage von Schwester Charlotte (Alexandra Dowling) an Emily (Emma Mackay): Wie konntest du etwas so Hässliches schreiben? Da ist es also schon passiert: die mittlere Brontë-Schwester hat ihren literarischen Erfolg und Skandal „Wuthering Heights“ schon geschrieben und sogar veröffentlicht. Doch die junge Frau ist krank.

In der Rückschau aus dem Krankenbett dröselt das biografische Drama nur die prägenden Jahre der Familie Brontë auf. Die vier Geschwister Charlotte, Branwell, Emily und Anne wachsen in der Pfarrei des verwitweten Vaters auf und werden langsam flügge. Charlotte hat bereits eine Anstellung in einem Mädcheninternat und Emily soll ebenfalls dort unterkommen.

Wer bist du?

Branwell, der Stammhalter der Familie, sieht sich selbst als Künstler, als Schriftsteller, Dichter und als Maler. Doch es gelingt ihm wenig. Seine Zeit in London endet als er in schlechte Gesellschaft und den Einfluss von Substanzen gerät. Als der Vater ihn heimholt in das provinzielle West-Yorkshire, blüht der junge Mann kurzfristig auf, wie auch seine Schwester Emily.

Dann taucht der neue Vikar der Gemeinde auf. William Weightman (Oliver Jackson-Cohen) wird augenblicklich zum Schwarm aller ledigen Damen des Kirchspiels. Nur Emily, die mit anderen Menschen selten gut klarkommt, fühlt sich von dem Vikar irritiert. Als Vater Brontë den Vikar als Französisch-Lehrer für Emily anstellt, macht dies das Leben für die fantasievolle junge Frau komplizierter, die lieber durch die Landschaft des umliegenden Pennines-Gebirges streunert.

Die Schauspielerin Frances O’Connor, dies selbst gelegentlich durch einen Historien-Film wandeltet („Madame Bovary“, „Mansfield Park“) legt mit „Emily“ ihr Regiedebut vor, für das sie auch das Drehbuch verfasste. Und tatsächlich sind die Bilder recht eindrücklich ausgefallen. Die feuchte, oft nebelverhangene Mittelgebirgs-Landschaft Englands ist ein eigener Protagonist. Rau, unbändig, unberechenbar, stürmisch. Aber auch voller Anmut und Schönheit.

Ganz so als prägte die Landschaft den Menschen ihn ihr, ist Emily, die „sonderbare“ Brontë-Schwester, ebenso undurchschaubar und urgewaltig wie die Landschaft, sofern sie erst einmal entfesselt ist. So zumindest das Narrativ dieses „Biopics“, das – zumindest auf dem deutschen Plakat – behauptet die Protagonistin sei „Rebellin, Außenseiterin, Genie.“ In „Emily Brontës größter Geschichte: ihrer eigenen.“

„Ich spüre etwas Gottloses, in dem was du schreibst.“

Und genau an der Stelle beginnen, jenseits der glutäugigen Protagonistin, die Probleme mit der „imaginären Biografie“ (Frances O’Connor). Denn über das Leben der Brontës ist wenig bekannt. Weil Charlotte die anderen um einige Jahre überlebte, ist vieles von dem Wenigen nur aus ihrer Chronisten-Sicht bekannt. Bekannt ist, dass die drei Schwestern, anders als ihr Bruder literarische Werke von Weltrang schufen. Bekannt ist auch, dass die Kinder Brontë sich in Fantasiewelten begaben, die sie mit Geschichten und Gedichten ausschmückten.

Das alles liegt freilich vor jener Zeit, die „Emily“ in die Linse nimmt. Und der Film ist sich nicht zu schade, die „fiktive“ Leibesgeschichte mit dem Vikar an jene tragische Liebschaft in „Wuthering Heights“ anzulehnen. „Emily“ erschließt sich die Künstlerin Emily Brontë über deren Hauptwerk. Das ist ein Weg der Interpretation, aber ein fragwürdiger. Das wird im Film aber nie ersichtlich. Das Fiktive ist in seiner Behauptung biografisch. Glauben darf das Publikum also längst nicht alles, was vorgeführt wird. Aber das wissen wir ja seit je her.

Ebenso fragwürdig sind andere Interpretationen wie etwas das Verhältnis des Vaters zu jedem seiner Kinder oder die vermeintliche Rivalität zwischen Charlotte und Emily. Die mag es sicherlich gegeben haben, aber wenn schon die anderen literaturhistorischen Eckdaten spielerisch verbogen werden, warum soll ausgerechnet hierin mehr Wahrhaftigkeit liegen?

„Emily“ ist ein moderner Film mit einem modernen Frauenbild, das nichts anderes im Sinn hat, als einer zeitgenössischen jungen Zielgruppe eine eigenständige Powerfrau vorzuführen, die ihren weg gegen alle Widerstände gemacht hat. Das ist ein kraftvoller Impuls und wenn er dazu dient, junge Damen zum Lesen von Klassikern zu verführen, bitteschön. Als Biopic ist „Emily“ ebenso schwindsüchtig wie ätherisch schön.

Film-Wertung: 5 out of 10 stars (5 / 10)

Emily
OT: Emily
Genre: Drama, Biopic
Länge: 130 Minuten, GB, 2022
Regie: Francis O‘ Connor
Darsteller:innen: Emma Mackay, Oliver Jackson-Cohen, Alexandra Dowling
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Wild Bunch
Kinostart: 24.11.2022