Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie mir “The Reflektor Tapes” gefallen hätte wäre ich ein Fan der Band Arcade Fire. Die Mulitinstumentalisten aus Montreal servieren hier alles andere als einen linearen Konzertmitschnitt oder gar Studio-Einblicke in die Entstehung ihres letzten Albums „Reflektor“ von 2013. Stattdessen würfelt Regisseur Kahlil Joseph haufenweise Impressionen, Live-Bilder, musikalische Einflüsse und diverse andere optische Elemente zusammen und unterfüttert das Ganze mit einer Soundspur, die nahe dran ist, den erfolgreichen, hymnischen Indie-Rock von Arcade Fire total zu zerlegen. Der Band gefällts – und mir auch.
Seit 2004 machen sechs Musiker, die sich im kanadischen Montreal zusammengefunden haben, die Musikwelt unsicher. Arcade Fire haben bislang vier Alben veröffentlicht und mit jedem im Prinzip die kommerziellen Erwartungen des Vorgängers übertroffen. Die Band scheint unaufhörlich zu wachsen. Beiträge zu Soundtracks (etwa Spike Jonzes „Her“), Kooperationen mit diversen andern Künstlern und nicht selten Live-Gigs, bei denen es auf der Bühne vor lauter Gastmusikern fast so wuselig ist wie im Auditorium. Mit ihrem vierten Album „Reflektor“ wollte die Band weiter musikalische Grenzen ausloten und hat sich dafür auf die haitianischen Wurzeln von Régine Chassange besonnen, die mit Win Butler liiert ist. Außerdem ist die Band dafür bekannt, neues Material gerne mal unter einem fiktiven Bandnamen live auszuprobieren.
Rund um die Entstehung des Albums und die Tour dazu ist der Dokumentarfilm „The Reflektor Tapes“ entstanden. Die Band entschied sich, den eigentlich eher unbekannten Filmmacher und Videokünstler Kahlil Joseph für das Projekt zu gewinnen, und dem Filmmacher ziemlich freie Hand zu lassen. Daraus ist ein wilder Mix aus Schwarzweiß- und Farbaufnahmen, haitianischem Karneval und Live-Gigs, absurd anmutenden Impressionen und impressionistischen Bildspielereien geworden. Dem Kaleidoskop auf der Leinwand muss man sich einfach aussetzen, um es wirken zu lassen. Es dauert ein bisschen bis man als Zuschauer in den Film hinein findet, was auch der Tonspur geschuldet ist.
Denn in Sachen musikalischer Untermalung und Sound geht „The Reflektor Tapes“ konsequent experimentelle Wege. Kein Song, der tatsächlich in seiner normalen Form ausgespielt würde, stattdessen Soundschnipsel, Interpretationsvarianten, Arbeitsversionen, dramatische Pausen innerhalb eines einzigen Liedes; dazu noch die Interview-Schnipsel der einzelnen Bandmitglieder. Eigentlich nichts, was man von Arkade Fire nicht schon irgendwie gehört hätte, aber mit einer grenzenlosen Lust an der Collage immer wieder neu angeordnet.
Zwar gibt es eine Art sich aufbauenden, musikalischen Intros und am Filmende eine (fast) durchgehaltene Live-Version zu hören, aber dazwischen wird der hypnotische Flow der Arkade Fire Hits immer wieder abrupt unterbrochen und neu sortiert. Auch das ergibt in seiner Remix-Qualität einen Sound und ein Kontinuum, aber eines, das man von Arcade Fire so nicht gehört hat.
Arcade Fire sind nicht die ersten, die ihre musikalischen Grenzen ausloten, nicht die einzigen, die sich auf die perkussive Kraft der „Roots“-Musik besinnen (in den 70ern war das bei Rockband extrem beliebt) und nicht die letzten, die die Fan-Erwartungen bewusst und fast mit Wolllust vor den Kopf stoßen. Einige Statements wirken denn auch etwas schnöselig und so, als habe die Band das Rad neu erfunden, aber das sei den erfolgreichen Musikern gegönnt.
Auch nach „The Reflektor Tapes“ bin ich nicht zum Arcade Fire Fan konvertiert. Kahlil Josephs filmisch, experimenteller Remix allerdings ist ein ebenso überraschender wie packender Einblick in einen furiosen musikalischen Kosmos.
Film-Wertung: (8 / 10)
The Reflektor Tapes: Arcade Fire
Genre: Musik, Doku, Experimental,
Länge: 75 Minuten (+ 15 Min Interview), 2015
Regie: Khalil Joseph
Mitwirkende: Arcade Fire
FSK: noch nicht geprüft
Vertrieb: Arts Alliance, Pulse
Kinostart: 24.09.2015
Offizielle Film-Homepage (mit Kinofinder)