Wie im echten Leben: Putze auf der Fähre

Eine Schriftstellerin macht sich Undercover an eine Recherche über das Leben an der Armutsgrenze. In einer kleinen Hafenstadt versucht sie Jobs zu bekommen und landet schließlich bei einer Putzkolonne, die auf Fähren für Sauberkeit sorgt. Die authentische Darstellung des Arbeitsalltags jenseits des Mindestlohns nach der Rebortage von Florence Aubenas war der französischen Schauspielerin Juliette Binoche eine Herzensangelegenheit. Bei Neue Visionen neu auf DVD ab 17. November 2022.

Kaum jemand, der nicht hier geboren ist oder hier lebt, verirrt sich in die französische Stadt Caen. In der Normadie gelegen hat die 100 000 Einwohner Stadt wenig zu bieten. Die Schriftstellerin Marianne (Juliette Binoche) hat Caen genau deshalb für ihre Recherchen ausgesucht. Sie lässt ihr Leben in der Paris hinter sich und begibt sich in Caen als alleinstehende, geschiedene Frau auf Arbeitssuche.

Recherche über das Leben am Rand der Gesellschaft

Das Jobcenter hat wenig mehr anzubieten als Bewerbungskurse und Minijobs, in denen es nicht einmal den Mindestlohn gibt. Die Brache der Gebäudereinigung soll krisenfest sein, doch Marianne ist ihren ersten Teilzeit-Job schnell wieder los, als sie ihrem Chef widerspricht, weil sich Auftraggeber beschwert haben, dass die Arbeit nicht erledigt ist.

Während Marianne darauf wartet, endlich einen Job zu finden, von dem sich auch leben kann, lernt sie einige Menschen kennen, die ihr Schicksal teilen. So den arbeitslosen Cedric, der auch gerne eine Beziehung hätte, und ihre erfahrene Vorarbeiterin, die Marianne immerhin leihweise ein Auto vermittelt.

Nun wird auch ein Job als Putzfrau bei den Fähren in Ouestreham möglich. Der Fährterminal liegt 14 Kilometer von Caen entfernt und Marianne lernt Chrystele (Hélène Lambert) kennen, die den Job braucht, um allein ihre Kinder durchzubringen. Sie arbeitet drei Schichten am Tag und geht zu Fuß zur Arbeit, weil sie sonst nicht hinkommt. Marianne bietet an, Chrystele mit dem Auto mitzunehmen, wenn diese ihr hilft, dort einen Job zu bekommen.

Die Arbeit in den Putzkolonnen auf den Fähren gilt als die stressigste überhaupt. Der Zeitplan ist eng und teilweise offenbaren die Kabinen ein erschreckendes Maß an Sauberkeit der Passagiere.

Die Reinigungsbrache bietet Möglichkeiten und Chancen

Die Verfilmung der Undercover-Reportage von Forence Aubenas war Juliette Binoche eine Herzensangelegenheit. Doch die Autorin sträubt sich lange gegen eine Verfilmung, willigte erst ein, weil Emanuel Carrére das Drehbuch schrieb und auch Regie führte. Vor allem die Vorbereitung der Dreharbeiten war wichtig für das Gelingen, denn abgesehen von Juliette Binoche waren nur Laiendarsteller beteiligt. Im Grunde also Menschen, deren „echtes Leben“ hier portraitiert wird.

Das ist in der Produktion nicht ohne Schwierigkeiten und das Gelingen des Films steht und fällt mit dem Vertrauensverhältnis, das zwischen Crew und Laien hergestellt werden kann. Das „Wie im echten Leben“ so packend und eindringlich geworden ist, liegt auch daran, dass die respektvolle Annäherung gelungen ist.

Auch ist das Drama in seiner Art und Herangehensweise offen und ehrlich und transportierte eben jene Incognito-Recherche und die daraus resultierende Schwierigkeit, die Menschen im Grunde zu belügen, mit denen man eine Zeit lang lebt. Doch es geht darum, eine gesellschaftliche Gruppe, ein Leben am Rand darzustellen, damit sich Zustände und Lebensbedingungen verbessern können.

Auf der Fähre – drei Mal täglich

Hierzulande ist der Enthüllungsjournalist Günther Wallraff des öfteren mit solchen Missionen und Reportagen unterwegs gewesen. Doch daraus einen Spielfilm, ein Drama zu machen, käme wohl den wenigsten in den Sinn. Ich erinnere mich noch mit Grausen an die deutsche Komödie „Unter den Betten“, die eine Verfilmung der Memoiren einer Promi-Putzfrau war, und in der Veronika Ferres als erfolgloser Pop-Star nun Putzen gehen muss.

In Frankreich und Belgien freilich hat das Sozialdrama, ähnlich wie auch in Großbritannien, einen anderen Stellenwert. Die gesellschaftliche Analyse wird dem Unterhaltungsaspekt untergeordnet und soziale Missstände oder bewegende Einzelschicksale haben durchaus die Faszination großartige Filme zu werden.

In diese Richtung ist auch „Wie im echten Leben“ unterwegs. Ein wenig mag die Dramaturgie fehlen, vielleicht sind einige Szenen redundant, oder der Wendepunkt mag etwas überspitzt wirken, doch das Drama punktet mit Aufrichtigkeit. Das muss sich dann wohl zwangsweise ein wenig zu unangenehm nah und alltäglich anfühlen.

Gerade die extrem realistische, beinahe dokumentarische Machart von „Wie im echten Leben“ sorgt anfangs für eine gewisse Sperrigkeit. Das Publikum muss seine Komfortzune verlasen, doch es lohnt sich. Neben der Schauspielerin Juliette Binoche wissen alle Lainedarsteller:innen zu überzeugen und geben dem Film nicht nur eine wichtige Botschaft sondern auch eine große Kraft. „Wie im echten Leben“ steht in einer langen Tradition franco-belgischer sehenswerter Sozialdramen.

Film-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

Wie im echten Leben
OT: Ouistereham
Genre: Drama, Gesellschaftskritik
Länge:
Regie: Emanuel Carrère
Vorlage: Reportage von Florence Aubenas, Deutsch: „Putze, mein Leben im Dreck“
Darstellerinnen: Juliette Binoche, Louise Pociecka, Hélène Lambert,
FSK: ab 6 Jahren
Vertrieb: Neue Visionen, Good Movies
Kinostart: 30.06.2022
DVD- & Digital-VÖ: 17.11.2022