Das kleine Rote kommt über das große Blau und wirbelt mächtig herum. Das hochenergetische brasilianische Stoner Trio „Red Mess“ will in Europa nicht nur die Bühnen unsicher machen, sondern hat auch ein neues Album im Gepäck. „Breathtaker“ hält, was der Titel verspricht und brilliert mit irrer Power im Stoner Rock Genre.
Bei Brasilien fällt den meisten Leuten wenig mehr ein als Fußball-Zauberer, Regenwald-Probleme und Carneval in Rio de Janeiro. Aktuell vielleicht noch der Corona-leugnende Noch-Präsident auf Rechtsaußen Jair Bolsonaro und der laufende Präsidentschaftswahlkampf zur Stickwahl Ende Oktober 2022. Herausforderer Lula hat auch so seine politischen Verfehlungen zu tragen und die Berichterstattung aus Brasilien macht keinen beruhigenden Eindruck.
Aber zurück zur Musik. Brasilien ist zwar weit weg, aber musikalisch alles andere als ein „Entwicklungsland“ oder nur eine Schaubühne für alternde Heavy Metal Bands. Ich belasse es an dieser Stelle mit Stichworten beziehungsweise Recherche-Tipps: Tropicalia, Os Mutantes, Gilberto Gil, Airto Moreira, Badi Assad, Thiago Nasif, Sepultura sowie die erst jüngst verstorbenen Chanteusen Elza Soares und Càssia Eller.
Londrina Rocks
Das Stoner Rock Trio „Red Mess“ besteht seit etwa einem Jahrzehnt und hat neben diversen kürzeren Formaten 2017 ein erstes Album veröffentlicht „Into the Mess“. Nachzuhören und auch digital zu erwerben auf der Bandcamp-Seite der Band (Link unten). So wie auch der Aktuelle Longplayer „Breathtaker“, der auf dem norwegischen Label und Vertrieb All Good Clean Records erschienen ist. Charmanter Weise und für die Sammelnerds auch als Cassette.
Da kann der interessierte Fan auch von Deutschland aus bestellen, muss aber mit erheblichen Shipping Gebühren rechnen. Bei Amazon oder im örtlichen Plattenhandel scheint das Album nicht problemlos zu kaufen zu sein. Daher bleibt Bandcamp eine Option. Auch und gerade bei der punkigen Preispolitik der Band.
Red Mess stammen aus Londrina. Einer Großstadt im Süden des Landes mit rund einer halben Millionen Einwohner. Hierzulande bekannte Promis aus der Stadt sind die beiden ehemaligen Bundeliga-Profis Giovanne Elber und Rafinha und wenn alles glatt läuft bald auch die drei von Red Mess.
Die acht Titel auf „Breathtaker“ haben alles, was ein Highlight des Stoner Rock Genres ausmacht. Verglichen mit dem Erstling hat sich das Trio vor allem in Punkto Songwriting und Arrangements ganz enorm verbessert. Es scheint, als wäre die Pandemie-Phase für exzessives Musizieren genutzt worden. Andererseits spielen die Jungs auch schon lange genug zusammen, um ein gewisses musikalisches Selbstverständnis entwickelt zu haben. Vertrackte, komplexere Arrangements scheinen da eine naheliegende Entwicklung zu sein. Auch um sich selbst nicht zu langweilen.
Außer Atem, außer Sicht
Los geht’s mit dem Titelsong „Breathtaker“. Das Eingangsriff ist klasse und bevor man sich zu lange freut, haben Red Mess auch schon Tempo und Lautstärke gedrosselt und auf Flüstermodus umgestellt. Nur um sich von da aus wieder zu einer Wall of Sound zu steigern. Das ist schon ziemlich energetisch und mit Charisma vorgetragen. Bisweilen erinnern mich Red Mess an die Wucht und Grazie der ersten Monster Magnet Alben.
„Deep Blue Fever“ steuert dann in überschaubare Gewässer und verliert sich hypnotisch in strammem Biker Rock und legt zum Refrain noch eine Schippe Hysterie drauf. „Icicles“ beginnt verstörend entspannt und in einer scheinbar ganz anderen Klangwelt. Da baut sich ein Song majestätisch und unnahbar auf und mündet schließlich in eine glasklare Gitarre, die Captain Beefhearts Magic Band gefallen hätte.
„Extinction“ ist einfach ein schweres Riffmonster bei dem der Gesang seine Bandbreite von kyuss-artigem Säuseln zu Faith No More’schem Krakeelen und klaren hellen Hard Rock Shouts über dem tieffliegenden Teppich schweben lässt. Eigentlich auch kein Wunder, dass die Vocals soi variabel sind. Gitarrist Thiago und denn Basser Lucas teilen sich den Job am Mikro. „Outta sight“ ist dann wirklich fast zu schnell für’s Fernglas und mit John Garcia artigem Crooner Coolness geht es in ein bluesiges Gitarrenkarussel. Episch!
Die anschließenden „Dead End Stairs“ führen keineswegs in eine Sackgasse, sondern legen mit vertrackter Rhythmik und einem Hang zur Psychedelic erstmals so etwas wie Retro-Charme aus. Eigentlich müsste sich titelmäßig „Crushing Gravity“ an die „Dead End Stairs“ anschließen. Hatte ich zumindest stimmig gefunden: Fenstersturz, wenn die Treppen schon ins nirgendwo führen.
Eiszapfen und Erdanziehung
Ist aber nicht der Fall: Stattdessen „Atomic Tide“. Eine noisige, knorrige Nummer, bei der nicht nur Anleihen an Hardcore durchkommen, sondern auch eine gehörige Portion brasilianischen Thrash Metals Marke Sepultura. Den Abschluss macht das das schwer mäandernde „Crushing Gravity“. Mit rund 7:30 Minuten der längste Song auf „Breathtaker“ und ein würdevoller Ausklang. Nach knapp 40 Minuten ist der Spaß vorbei, aber der Hunger noch lange nicht gestillt. Der Kopf noch lange nicht genug geschüttelt. Und ein weiterer Durchlauf scheint angesagt. Oder auch Heavy Rotation.
„Red Mess“ besuchen gerade die alte Welt, touren in Europa, wahlweise ausgedehnt im sprachähnlichen Portugal anschließend im Rest des Kontinents. Tourdates in Deutschland waren noch eher rar, Berlin las ich und Nürtingen, aber da kommt hoffentlich noch mehr. Sollten Red Mess auch nur annähern den Furor dieses großartigen Albums in eine Performance packen können, wäre das nächstgelegene Konzert eine Pflichtveranstaltung. Und nehmt ordentlich Penunzen für den Merch-Stand mit, sonst langt’s am Ende nicht für die Überfahrt in die Heimat.
Lange Zeit hatte ich meine Vorliebe für Stoner Sounds vernachlässigt. Das Genre schien ausdefiniert. Red Mess fügen den schweren, vermeintlich behäbig mäandernden Rock eine hyperaktive Prise Punk und auch Thrash brasilianischer Prägung hinzu. „Breathtaker“ ist bandintern eine erhebliche Steigerung Chaos-Faktors und damit des Überraschungsmomentums. Ganz großes Album.
Album-Wertung: (9 / 10)
Red Mess: Breathtaker
Genre: Stoner, Heavy Rock, Psychedelic Rock
Länge: 38 Minuten (8 Songs), BRA, 2022
Interpret: Red Mess
Label: All Good Clean Records
VÖ: 14.10.2022
Red Mess bei All Good Clean Records
Facebook-Auftritt von Red Mess
Red Mess bei Bandcamp (incl. Tourdates!)