In Schleswig-Holstein gehörte Theodor Storms Novelle „Der Schimmelreiter“ in meiner Schulzeit zum heimatlichen Literaturkanon. Dabei hat das Schauermärchen auch andere Ursprünge. Die gelungene Verfilmung für das DDR-Fernsehen von Regisseur Klaus Gendries ist nun in der Reihe „DDR TV-Archiv“ bei Studio Hamburg als DVD wiederveröffentlicht worden. Ein Wiedersehen.
Der junge Bauernsohn Hauke Haien (Silvester Groth) bringt sich mit Hilfe eines alten Mathematikbuchs selbst die Geometrie bei und entwickelt eine naturwissenschaftliche Neugier. Daraufhin gibt sein Vater den wissbegierigen Jungen beim Großbauern und Deichgrafen Volkerts in Stellung. Dort wird Hauke wegen seiner Talente schnell unentbehrlich, gerät aber in Konflikt mit dem alten Knecht Ole Peters (Hansjürgen Hürrig).
Für den alten Knecht schien klar, dass er bald die Bauerstochter Elke (Jolanta Gruszinac) heiratet und selbst Deichgraf wird. Doch der junge Hauke Haien ist es, der die Deiche in der Gegend reparieren lässt und dem Deichgrafen Volkerts letztlich ein Lob vom Oberdeichgrafen einbringt.
Eine gespenstisch bleiche Erscheinung
Dann stirbt der Deichgraf kurz nachdem auch Haukes Vater gestorben ist. Daraufhin gründen Elke und Hauke eine Familie. Hauke hat sich vorgenommen eine neue Art von Schutzdeich zu bauen, die sich bereits im Experiment bewährt hat. Man lässt ihn gewähren. Doch Ole Peters, inzwischen selbst Deich-Inspektor aufgestiegen, wird nicht müde, Hauke Haien in Verruf zu bringen.
Die Novelle „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm gehört zu den bekanntesten Werken deutschsprachiger Literatur. Wie eingangs erwähnt war die Novelle des Husumer Schriftstellers und Heimatdichters in meiner Schulzeit Pflichtlektüre. Es ist dann immer eine spezielle Angelegenheit, sich später erneut mit diesem Thema zu beschäftigen. In diesem Fall ist das Wiedersehen durchaus willkommen.
Theodor Storm hatte durchaus ein Faible für Schauergeschichten aus dem Volksmund und hat solche in seiner Heimat gesammelt und veröffentlicht. Erstaunlicherweise erschien „Der Schimmelreiter“ gesondert und die Forschung hat die Ursprünge des Mythos heute auch am Gestade des Flusses Weichsel ausgemacht. Wenn diese „Schimmelreiter“-Verfilmung ihren Schauplatz an der Ostsee hat, kehrt der reitende Geist auch ein wenig in seine Heimat zurück.
Der Deich fordert ein lebendiges Opfer
Merkwürdiger Weise kommt das Element der Schauergeschichte in Storms Novelle vor allem in der erzählerischen Rahmenhandlung zur Geltung. Darin begegnet ein Reisender dem Schimmelreiter in stürmischer Nacht auf dem Deich. Als er in eine Schenke einkehrt, erzählt ein Alter aus dem Dorf die Legende von Deichgrafen Hauke Haien. Anders als die vorangegangenen Verfilmungen nimmt diese deutsch-polnische TV-Produktion die Rahmenhandlung als einzige auf.
Überhaupt ist die Verfilmung sehr werktreu und Regisseur Klaus Gendries wagt sich bereits an seine zweite Storm-Verfilmung. Gleichwohl eignet sich die Geschichte des Hauke Haien auch, um Gesellschaftsfragen aus sozialistischer Sicht vorzustellen und zur Diskussion zu stellen. Es ist nicht unüblich, dass sich in real exisiterenden Sozialismus aktuelle Fragen in historischen oder futuristischen Geschichten finden.
Hauke Haien kommt aus der Bauernschaft, arbeitet sich nach oben. Doch zugleich bricht er mit dem Aberglauben und den Traditionen seiner Zeit. Er stellt die Naturwisssenschaft über den Status Quo und eckt damit an. Fortschrittsglaube wird als Arroganz ausgelegt, Gelehrigkeit als Hexenwerk und Aufstieg als Verrat. Das lässt sich trefflich in Szene setzen und wird von den beiden Rivalen Hauke Haien und Ole Peters beispielhaft ausgedeutet.
Der gesellschaftliche Aufstieg und familiäres Unglück
Die beiden damals sehr jungen Darsteller Sylvester Groth („Polizeiruf 110“, „Inglorious Basterds“) und Hansjürgen Hürrig („Weißensee“, „unter anderen Umständen“) sind auch heute noch beliebte und vielbeschäftigte Darsteller im deutschen Fernsehen. Die Besetzung beinhaltete auch einige tragende polnische Darsteller:innen. Während vorwiegend an deutscher Ostseeküste gedreht wurde, waren die polnischen Kollegen für die Bauten und Kulissen zuständig und aus dem bilateralen Projekt wurde eine historisch stimmige Visualisierung.
Bisweilen wirken die etwas unscharfen, aber realen und nicht wie heute üblich computer-animierten, Bilder der aufgewühlten See und stürmischen Natur etwas befremdlich und das seinerzeit übliche 4:3 TV-Format ist heutzutage auch aus der Mode gekommen, so dass die Inszenierung etwas altbacken wirkt. Allerdings steht „der Schimmelreiter“ auch in einer großen Tradition osteuropäischen Dramas, dass seine Bildsprache aus dem sowjetischen Film entwickelt hat und mit geerdetem Realismus überzeugen kann. Für die „Schauernovelle“ vom Schimmelreiter ergibt sich daraus ein sehenswerter Gegensatz.
Aus heutiger Sicht scheint „Der Schimmelreiter“ von 1984 nicht sonderlich vorteilhaft gealtert. Da wäre mehr Schauerromantik möglich gewesen, aber wohl nicht gewollt. Als Kind seiner Zeit und seiner Gesellschaft stellt die ostdeutsch-polnische Koproduktion den Klassenkonflikt in den Vordergrund und lässt den Aufsteiger Hauke Haien letztlich scheitern, weil er seine Tradition vergisst. Dennoch einige sehr gelungene Szenen und feine Naturaufnahmen.
Film-Wertung: (6 / 10)
Der Schimmelreiter
OT: Der Schimmelreiter aka „Jeździec na siwym koniu“
Länge: 95 Minuten, DDR/PL, 1985,
Regie: Klaus Gendries
Literarische Vorlage: „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm
Darsteller:innen: Sylvester Groth, Hansjürgen Hürrig, Jolanta Grusznic
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Studio Hamburg Enterprises, „DDR TV-Archiv“
Kinostart: kein Kinostart
DVD-VÖ: erstmals 21.02.2011
Wieder-VÖ: 26.05.2022