Petite Maman – Als wir Kinder waren: Panther im Schatten

…und plötzlich sind da Leerstellen und das Leben geht dennoch weiter. Für die junge Nelly beginnt ausgerechnet mit dem Tod der Großmutter eine unerwartete Freundschaft. Die französische Filmmacherin Céline Sciamma gehört derzeit wohl zu den poetischsten und aufregendsten Filmschaffenden. Nach „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ überrascht „Petite Maman“ erneut mit entwaffnender Natürlichkeit und zeigt, dass Film auch mit wenigen Mitteln verzaubern kann. Ab 17. März 2022 im Kino.

Nachdem Nelly (Josephine Sanz) mit ihren Eltern im Altenheim das Zimmer der verstorbenen Großmutter ausgeräumt hat, fährt die Familie zu deren Haus um auch dieses zu entrümpeln. Nelly fragt ihre Mutter nach deren Baumhaus, das sie früher im Wald hinter dem Haus gebaut hat, doch die Mutter ist mit anderen Dingen beschäftigt.

Die Mutter lässt Nelly und ihren Vater am kommenden Tag allein mit der Aufgabe zurück. Während Nellys Vater das Haus ausräumt, geht das Mädchen im Wald spielen und lernt dort ein Mädchen kennen, dass ihr nicht nur wie ein Zwilling gleicht, sondern auch ein Baumhaus baut. Die beiden Mädchen werden Freundinnen.
Der Titel von Céline Sciammas neuem Film „Petite Maman“ lässt ahnen, wen die junge Nelly in diesem Wald trifft. Die irreale Situation geht allerdings unbekümmert und natürlich in eine kindliche Selbstverständlichkeit über. Dabei ist „Petite Maman“ immer erstaunlich präsent und sehr nah bei seinen Charakteren ohne sich in Erklärungen zu flüchten.

Leere Räume

Gerade darin liegt die herzergreifende emotionale Qualität des Dramas. Dies bedient sich der Methoden eines klassischen Abenteuerfilms für Kinder, um eine generationsübergreifende und einfühlsame Parabel über Familie, Verlust und Freundschaft zu erzählen. Kamera und Erzählung sind immer nah bei der kindlichen Hauptperson. Erwachsenen spielen eigentlich kaum eine Rolle und sind nur kurz und unwesentlich in Szene gesetzt. Und nie ist die Erzählung klüger als die Heldin oder das Publikum.

Nelly allerdings ist eine außergewöhnliche, mutige Heldin. Deren Superkraft ist die große emotionale Intelligenz, die Autorin Sciamma ihr in knappen, ausgefeilten Dialogen mit auf den Weg gibt. Das ist zum niederknien schnörkellos, schön, klug und umwerfend wahrhaftig. Schon früh in ihrer Karriere war Céline Sciamma immer auch Autorin, die für und mit anderen an deren Drehbüchern schrieb. So wie aktuell für Jaques Audiards „Les Olympiades, Paris 13me“ („Wo in Paris die Sonne aufgeht“), André Techinés „Quand on a 17 ans“ („Mit Siebzehn“) oder Claude Barras‘ „Ma vie de Copurgette“ („Mein Leben als Zucchini“).

Zauberwald

Die schlichte Knappheit ihrer Dialoge war schon immer Sciammas große Qualität. Das macht neben ihrem sicheren Gespür für ungewohnte Geschichten in realistischen Settings die starke Anziehungskraft ihrer Filme aus. Der erste Eindruck ist auch in „Petite Maman“ in seiner Effektivität beinahe schon Understatement. Nelly verabschiedet sich von jeder einzelnen Dame im Altenheim. Dieses Kind ist im Leben verwurzelt und aufgeweckt. Und dennoch gilt es einen Verlust zu verarbeiten und den Erwachsenen in ihrer Trauer beizustehen und ihnen Raum zu geben. Dabei entsteht beinahe natürlich ein Familiengefühl, das Generationen umspannt und auch dem Publikum bei all dem fantastischen Abenteuer großen Trost spendet.

Céline Sciammas „Petite Maman – Als wir Kinder waren“ ist ein Glücksfall von einem Film, der das Publikum mit seiner vermeintlichen Schlichtkeit und großherzigen Offenheit überrumpelt. Wer erst einmal zum Spielen in den Wald kommt, wird mit einem lebensbejahenden Gefühl der Zusammengehörigkeit beglückt. Schöner war Kino selten und wird es in diesem Jahr wohl nicht noch einmal.

Film-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Petite Maman – Als wir Kinder waren
OT: Petite Maman
Genre: Drama,
Länge: 72 Minuten, F, 2021
Regie: Céline Sciamma
Darstellerinnen: Joséphine Sanz, Nina Meurisse, Gabrielle Sanz
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Alamode
Kinostart: 17.03.2022