Ziemlich ansatzlos veröffentlicht Studio Hamburg Entertainment die kleine britische Dramaperle „The Winter Guest“, die es seinerzeit 1997 scheinbar nicht in die deutschen Kinos schaffte. Die Verfilmung eines Theaterstücks von Sharman Macdonald ist zwar optisch etwas gealtert, hat aber mit der realen „Mutter und Tochter“-Konstellation der beiden Hauptdarstellerinnen nicht nur cineastischen Charme. Wege aus der Verzweiflung in Familientherapie mit Phyllidis Law und Emma Thompson.
Zielstrebig stapft eine alte Frau mit einem Pelzmantel über einen verschneiten Acker bis sie im Küstendorf dann doch stolpert. Die beiden in Trauer gehüllten Damen, die auf dem Weg zur Bushaltestelle sind, haben etwas zu tratschen. Und Alex (Garys Hollywood) trifft seine Großmutter Elspeth (Phyllidis Law) nur im Vorübergehen auf dem Weg zur Schule.
Doch Alex stürzt mit dem Rad bei der Glätte ebenfalls, weswegen Nachbarstochter Nita (Arlene Cockburn) eine helfende Hand bei der Reparatur anbietet und den jungen Mann so zum Schuleschwänzen verleitet. Heut nicht zur Schule zu gehen hielten auch die beiden Bengel Tom (Sean Biggerstaff) und Sam (Douglas Murphy) für eine gute Idee; sie dürfen nur nicht gesehen werden, während sie am Strand herumstöbern.
„Wohin gehen sie? „Zum Leuchtturm.“ „Das dauert Stunden.“ (Alex und Nita)
Elspeth ist eigentlich auf dem Weg zu ihrer Tochter Frances (Emma Thompson), die vor kurzem ihren Mann nach langer Krankheit verloren hat. Doch Frances trauert noch immer und versteckt sich vor der Welt. Sie spielt mit dem Gedanken nach Australien auszuwandern. Während ihre Mutter durch das kaum geheizte Haus räumt, liegt Frances noch in der Badewanne. Keine Chance, dass ihre Mutter einfach wieder verschwindet.
Während die beiden alten Damen Lily (Sheila Reid) und Chloe (Sandra Voe) mal wieder auf dem Weg zu einer Beerdigung sind von jemanden, den sie nicht kennen, unterhalten sie sich über Gott und die Welt und die letzten Dinge. Sam und Tom hingegen schwanken, nachdem sie ein gebrauchtes Kondom gefunden haben, ob die Sache mit dem Sex es wirklich wert ist. Tom zumindest – „ohne Haare am Sack“ – erwägt „lieber Wichser zu bleiben, wenn das echt so eklig ist wie die in Sexualkunde gezeigt haben.“ Aber noch sind die vorpubertären Bengel zur Genüge mit Feuermachen und heimlich Rauchen beschäftigt.
„Mit dir oder ohne dich, Chloe: Das ist mein Bus!“ (Lily zu Chloe)
Vielleicht schaffte es „The Winter Guest“ 1997 nicht in die deutschen Kinos, weil hierzulande einfach der Promi-Bonus fehlte, um ein größeres Publikum anzulocken. Sicher war es auch nicht hilfreich, dass das Theaterstück hierzulande nicht bekannt war und ist und man die Dramatikerin Sharman Macdonald, die Mutter von Hollywood-Star Keira Knightley, die damals noch ein Kinderrollen im Fernsehen spielte, bei uns auch weder auflegte noch aufführte.
Scheinbar hat Studio Hamburg Entertainment die Rechte an „The Winter Guest“ eher zufällig erworben und veröffentlicht dem Film nach gut 25 Jahren zwar als Blu-ray-Premiere aber ohne viel Aufhebens und Brimborium. Anwählbar sind eine deutsche Synchronfassung oder die englische Originalfassung. Die Blu-ray enthält weder Bonusmaterial noch Untertitel oder ein Booklet und wirkt daher etwas schlicht ausgestattet, auch und gerade in der Reihe „Kino Kult Klassiker“ die mit der Zeitschrift Cinema herausgegeben wird.
Der 2016 verstorbene Schauspieler Alan Rickman („Harry Potter“, „Robin Hood“, „Stirb Langsam“) hat sich mit der Verfilmung des Theaterstückes erstmals (und überhaupt nur zwei Mal) hinter die Kamera gewagt und dabei seine Erfahrung als Theaterregisseur eben dieses Stückes einfließen lassen. „The Winter Guest“ präsentiert denn auch einige Darstellerinnen aus dem Bühnenensemble, unter anderem Phyllidis Law in der Rolle der Mutter. Die damals bereits sehr erfolgreiche Emma Thompson, mit der Rickmann in Ang Lees „Sinn und Sinnlichkeit“ (1995) zusammenspielte und die gerade zwei Oscars gewonnen hatte, für die Rolle der Frances zu gewinnen, ist mehr als ein Coup, es ist eine glückliche Fügung, denn Law und Thompson sind im richtigen Leben Mutter und Tochter.
Tatsächlich bedeutet das noch keinesfalls automatisch ein nuancenreiches, sehenswertes Zusammenspiel, aber in „The Winter Guest“ entwickelt sich die Beziehung der beiden Frauen zu einem fürsorglichen Hin-und-Her, das anfangs von Ablehnung und Nickligkeiten geprägt ist, später von gegenseitiger Liebe und Fürsorge. Dazwischen liegt ein ganzes Leben, das in dem Stück und dem Film exemplarisch vorgeführt wird durch die anderen Charaktere, die nicht umsonst aus sehr unterschiedlichen Lebensphasen stammen.
„Ich will kein Striptease-Tanzer werden.“ „Wer weiß, ob du das nicht irgendwann musst. Sicherheiten gibt es heute nicht mehr.“ (Tom und Sam)
Bisweilen merkt man den Dialogen und der Figurenaufstellung ihre Ausrichtung auf die Bühne noch an, das wirkt dann etwas hölzern, weil überspielt, wenn die Kamera in Nahaufnahmen geht und keine Distanz eines Saales wirken muss, aber zumeist hat das Ensemble die filmischen Anforderungen bestens im Griff.
International konnte Alan Rickmans „The Winter Guest“ durchaus einige Preise und berechtigtes Kritikerlob einfahren und wer auf die karge, verschneite und neblige Küstenlandschaft Schottlands schaut, wird merken, dass das Setting nicht nur die Stimmung des Films Wiederspiegelt, sondern auch einen eigenen, beinahe verinnerlichten Charme hat. Der Blick in die Weite ist ebenso ein Blick ins Innere.
Die gefrorenen schottische Küstenlandschaft gibt der ganzen Geschichte genau den unterkühlten Charme, den dieses Theaterstück über verschiedene Phasen des Lebens und Leidens braucht. Dennoch kommt an einigen Stellen das Bühnenhafte des Dramas durch. Davon kann sich Regisseur Alan Rickmann nicht trennen. Aber die wechselhafte und schillernde Mutter-Tochter-Beziehung der beiden großen Schauspielerinnen ist aber noch immer sehenswert und sehr bewegend.
Film-Wertung: (7 / 10)
The Winter Guest
OT: The Winter Guest
Genre: Drama,
Länge: 106 Minuten, UK, 1997
Regie: Alan Rickman
Vorlage: gleichnamiges Theaterstück von Sharman Macdonald
Darsteller:innen: Emma Thompson, Phyllidia Law
FSK: ab 12 Jahrne
Vertrieb: Studio Hamburg Enterprises
Kinostart: nicht in Deutschland
BD-VÖ: 17.12.2021