Kajillionaire: Wahlverwandschaften

Miranda July ist eine vielbeschäftigte Künstlerin, die in unterschiedlichen Bereichen unterwegs ist. 2020 hat sie sich wieder einmal dem Filmmachen verschrieben. Die Tragikomödie „Kajillionaire“ erzählt von einer verschrobenen Außenseiter-Familie, von Verwandtschaft und Wahlverwandtschaft. „Kajillionaire“ ist Julys dritter Spielfilm als Autorenfilmerin und Regisseurin. Der ebenso außergewöhnliche wie schräge Film kam hierzulande mitten in der Corona-Pandemie ins Kino und erschien erst rund ein Jahr später auf DVD. Good Movies hat „Kajillionaire“ Anfang September für das Home-Entertainment veröffentlicht.

…und ja, ich habe die Besprechung komplett vertrödelt, weshalb ich den Film nun kurz vor dem Jahresende vorstelle, alle, die auf schräges Zeugs stehen, haben die hinreißend absurde Komödie sicher schon längst gesehen, alle anderen tun gut daran, sich ein wenig Zeit zu nehmen und dem Film eine Chance zu geben.

Wenn man als Kind von Trickbetrügern groß wird, die das hergebrachte Gesellschaftsleben verlassen habe, sehnt man sich automatisch nach ein wenig Normalität. Normalität ist, was jemand als alltägliche Erfahrung erlebt. Im Fall der 26jährigen Old Dolio (Evan Rachel Wood) sieht das so aus, besteht der Alltag darin, mit ihren Eltern auf kleine Gaunereinen zu gehen.

Aktuell hat sich das Trio eine Postfiliale vorgenommen, bei der man durch Schließfächer, die am Sortierende offen sind, auch die benachbarten Fächer plündern kann. Nicht immer findet sich etwas Brauchbares oder Wertvolles, aber Theresa (Debra Winger) und Robert (Richard Jenkins) fällt schon noch eine andere Masche ein, um den Tag herumzukriegen.

Zurzeit lebt die Familie in einem Lagerraum, der neben einer Waschanlage liegt und das „Mietverhältnis“ beinhaltet, das Old Dolio und ihre Eltern die eingelagerten Dinge vor dem Schaum schützen. Der wird dann armeweise abtransportiert. Irgendwann wird es Old Dolio zu bunt und sie beginnt sich selbst einen lukrativen Fischzug auszudenken. Doch dazu braucht die Familie eine weitere Mitstreiterin. Die lebendige und neugierige Melanie (Gina Rodriguez) scheint eine perfekte Ergänzung der Crew.

Doch Ginas Auftauchen bringt das fragile Familiengerüst erheblich ins Wanken. Schnell fühlt sich Old Dolio ausgeboten, wenn Theresa und Robert Gina wie eine richtige Tochter aufnehmen. Aber die neue Schwester zeigt dem Einzelkind auch ganz andere Möglichkeiten auf.

Im amerikanischen Slang bezeichnet das Wort „Kajillion“ eine fantasievoll hohe Anzahl von irgendetwas. In Miranda Julys drittem Spielfilm ist es die abfällig sarkastische Übertreibung von Old Dolios Eltern, mit der das Streben der Normalbürger nach Reichtum und immer mehr von allem abgekanzelt wird. Das schließt bei genauerer Betrachtung faktisch alles ein, was Robert und Theresa an der bürgerlichen Existenz ablehnen.

Woher die Ablehnung rührt, wird im Laufe des Films schon recht schnell klar. Da spielt Versagen und die Angst davor eine Rolle, auch wenn Old Dolios Eltern eigentlich nur Angst davor haben, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt, also Erdbeben alles ins Wanken bringen.

„Du erkennst das nicht, weil du nicht von edler Geburt bist.“

Miranda July ist eine ziemlich umtriebige Künstlerin, die neben kurzen und langen Filmen und Drehbüchern auch Theaterstücke und Performances macht und entwirft, als Autorin von Kurzgeschichten einen veritablen Ruf erschrieben hat. Miranda July entwickelt wirklich immer eine ganz eigene Perspektive auf die Dinge, die scheinbar sehr stark mit ihrer Lebewelt verbunden wirkt, aber immer auch eine abstrakte, tiefergehende Ebene hat, in der es ziemlich psychologisch zugeht, ohne dass sich Leser:innen und Zuschauer:innen analysiert vorkämen.

Auch die Charaktere sind keine Laborratten, sondern derart exzentrische Charaktere, dass die Frage, wie jemand so geworden ist und wie überlebenstauglich dieses Persönlichkeitskonstrukt ist, sich automatisch stellt. Das ist oft verspielt, hat melancholische Ecken und trifft in seiner verqueren Ausdeutung den Kern des Ganzen mit großer Zielgenauigkeit.

„Kajillionaire“ macht da keine Ausnahme und selbst wenn es mir persönlich reicht dem großartigen Ensemble zuzusehen und sich überraschen zu lassen, wohin sich die Geschichte wendet, muss jed:r selbst versuchen, ob er mit dieser Art von Figurenzeichnung und Storyentwicklung etwas anfangen kann. Sicherlich ist Miranda Julys Weltsicht und ihre Kunst ziemlich speziell, aber es lohnt sich, einen Blick zu riskieren. Auch deshalb, weil „Kajillionaire“ bei aller Tragik auch sehr originell witzig ist. Allein der hinreißende, im Trailer bereits ausgepackte „Den Kameras ausweichen“-Breakdance ist großartig. Wer braucht schon ein Gitter aus Laserstrahlen, wenn sie das Muster im Kopf hat? Ist doch offensichtlich.

Die Tragikomödie „Kajillionaire“ ist mit Abstand einer der originellsten Filme, die in der letzten Zeit ins Kino kamen. Filmmacherin Mirand aJuly ist immer für eine Überraschung gut, die keine aufwändigen Kulissen und Effekte braucht. Dieser Independent-Spirit wird von der großartigen Besetzung auch fulminant umgesetzt. Manchmal muss man sich seine Streicheleinheiten einfach ergaunern.

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Kajillionaire
OT: Kajillionaire
Genre: Komödie, Drama,
Länge: 105 Minuten, USA, 2021
Regie: Miranda July
Darsteller:innen: Evan Rachel Wood, Debra Winger, Richard Jenkins, Gina Rodriguez
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Universal (Kino), Good Movies (HE)
Kinostart: 22.10.2020
DVD-VÖ: 02.09.2021