Der russische Roman „Das schwarze Pferd“ hat genau wie sein Thema der russische Bürgerkrieg als Folge der Oktoberrevolution beinahe ein Jahrhundert auf dem Buckel. Dennoch ist der von Alexander Nitzberg übersetzte und im Galiani Verlag Anfang März erschienen Roman eine deutsche Erstveröffentlichung. Der Autor Boris Sawinkow war eine schillernde und kämpferische Persönlichkeit und verarbeitet in „Das schwarze Pferd“ auch und vor allem eigene Erlebnisse. In ihrer kargen und präzisen Sprache entwickelt Sawinkows Prosa häufig lyrische Ausmaße. Roman und Autor sind eine erstaunliche Neuentdeckung, die sich zu lesen lohnt.
Während man hierzulande 2017 das Lutherjahr ausgerufen hat und 500 Jahre Reformation auf die Feieragenda geschrieben hat, rückt ein anderes Jubiläum – zumindest in den Medien – ziemlich in den Hintergrund: Die russische Oktoberrevolution von 1917. Zum ersten Mal wurde in Russland die kommunistische Idee tatsächlich umgesetzt. Man möchte vielleicht meinen, dass sich die „Utopie“ vom kommunistischen Staat spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion 1990 selbst zerlegt habe, aber der global grassierende Turbokapitalismus tut sein Möglichstes, die sozialistische Ideale als alternative Gesellschaftsgestaltung am Leben zu halten.
„Und ich frage mich: Bruder gegen Bruder oder Wanz gegen Zeck? (s. 47)
Allerdings stieß der praktische Kommunismus wie ihn Lenin und Konsorten umzusetzen planten schon direkt nach der Oktoberrevolution auf erbitterten Widerstand. In den ersten Jahren der Sowjetunion kämpften die Bolschewiken und die Rote Armee gegen Truppen, die die alte Ordnung wieder herstellen oder die neu zumindest nicht haben wollten. Diese sehr heterogenen Streitkräfte wurden vom Ausland unterstützt und lieferten sich jahrelang Kämpfe mit der roten Armee. Der Autor Boris Sawinkow schildert in dem 1923 in Paris geschriebenen Roman „Das schwarze Pferd“ seine fiktionalisierten Erlebnisse als Kommandant der Weißgardisten später bei den Partisanen der „grünen“ Armee und schließlich im Moskauer Untergrund.
Glücklicher Weise ist Übersetzer Alexander Nitzberg ein kenntnisreicher und sorgfältiger Editor des eher schmalen Tagebuch-Romans und so braucht der Leser für die Lektüre keinerlei historische Vorkenntnis. Nitzberg versieht alles, was sich nicht direkt aus dem Text erschließt, mit einer Anmerkung, die im Anhang zu finden ist. Zudem ist noch ein umfangreiches Dossier zu Boris Sawinkow angefügt, so dass der etwa 180 Seiten knappe Roman zu einem rund 270 Seiten umfassenden Buch wird, das es in sich hat. Diese erstmals auf Deutsch erschienene Ausgabe ist wie schon der 2015 bei Galiani veröffentlichte Sawinkow Roman „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ eine literarische Offenbarung. Liest man beide Bücher und stellt einen Zusammenhang her, so ergibt sich ein abstruses Bild des Autors, aber dazu später mehr.
„Das Schicksal hat mich für den Kampf bestimmt.“ (s. 81)
„Das schwarze Pferd“ ist benannt nach dem dritten Reiter der Apokalypse, der in der Offenbarung des Johannes eine Waage trägt und Tod und Hunger bringt. Und die prägnante und pointierte Sprache Sawinkows ist immer wieder von Bibelzitaten durchsetzt. Das erstaunt insofern, als dass sich der Erzähler George, den man durchaus als Alter Ego des Autors interpretieren darf, sich selbst als einen Mann jenseits jeglicher Ideologie versteht. Mit trockenen, schmucklosen Sätzen schildert George den Stand der Kämpfe, die Stimmung in der Truppe – festgemacht an ein paar exemplarischen Gestalten-, seine eigene desillusionierte Gemütslage, seine Beziehung zu einem Bauernmädchen und seine Sehnsucht; Sehnsucht nach der fernen Geliebten Olga, die in Moskau unerreichbar bleibt, und nach Russland, dem Ideal von Russland, so diffus dieses auch bleibt. In Georges knappen Tagebucheinträgen verschmelzen Russland und Olga zu einer Idee. Die treibt ihn allerdings nicht zur Handlung und in den Kampf, sondern schlicht die Ablehnung dessen, was die Boleschewiken, „das Gesocks“, anzubieten haben. Ein positives Ideal vermag George dem allerdings nicht entgegenzusetzen – und will es auch gar nicht. Für jemanden, der eine getriebene Kämpfernatur zu haben scheint, kommt dann die nüchterne Analyse der Nutzlosigkeit des Krieges, des Tötens recht überraschend, aber durchaus glaubwürdig auf den Punkt.
„Ich bin glücklich, weil ich ein Diener Russlands bin.“ (S.72)
Der lakonische, poetische Stil Sawinkows wirkt gerade in der auch gerne einmal wortreichen russischen Literatur geradezu exzentrisch. Nitzbergs Essays zu Autor und Werk rücken den ehemaligen Terroristen und Sozialrevolutionär, der anfangs noch auf Seiten der Oktoberrevlutionäre kämpfte, in die Nähe großer russischer Autoren wie Bulgakow und Dostojewski. Sawinkow war zu Lebzeiten auch durch seine Zeit im Exil eine international bekannte Persönlichkeit, die auch andere Schriftsteller beeinflusst hat. Die knappen und sprachlich extrem präzisen Beobachtungen in Sawinkows Büchern erinnern mich in ihrer Wucht ein wenig an die Kurzprosa des Musikers und Spoken Word Artisten Henry Rollins. Manches vielleicht auch an Kafkas Miniaturen oder auch an Albert Camus, von dem gesagt wird, dass er von einem der Bücher Sawinkows beeinflusst worden sei.
„Das schwarze Pferd“ ist radikal subjektiv, bemüht sich gar nicht erst, einen Handlungsrahmen zu skizzieren, sondern geht mit erfrischender Unmittelbarkeit in das Geschehen des russischen Bürgerkrieges. Das ist packend und aufgrund der Perspektive jenseits späterer sozialistischer Einheitskunst ein höchst willkommener historischer Einblick. Schon allein deshalb ist „Das schwarze Pferd“ ein wichtiger Roman. Sawinkow schrieb ihn etwa 14 Jahre nachdem er „Das fahle Pferd – Roman eines Terroristen“ geschrieben hatte. Im direkten Vergleich der noch stärkere Roman, von dem nicht nur der Titel des späteren entliehen ist, sondern auch der tagebuchartige Aufbau, die Beschreibungen der Mitstreiter und die kühle romantische Dimension der Handlung.
„Wofür kämpfen wir? Klären Sie mich auf. (S. 121)
„Das fahle Pferd“, des vierten apokalyptischen Reiters symbolisiert Furcht, Niedergang und Tod. Ein Motto, dass Sawinkow durchaus wörtlich verstanden hat, schildert er doch in „Das fahle Pferd“ seine Bemühungen das zaristische Russland kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert als Terrorist zu Fall zu bringen. Auch dieser Roman ist stark autobiographisch geprägt und zeigt den Erzähler, der ebenfalls George heißt und wohl identisch mit jenem in „Das Schwarze Pferd“ ist, als nihilistischen Mann der Tat, der direkt aus Dostojewskis Roman „Die Dämonen“ entsprungen scheint: zu allem bereit und niemandem verpflichtet außer dem adrenalin-befeuerten Drang zu Tod und Zerstörung, der sich selbst genug ist. Eine schärfere Innenansicht des Terrorismus hat es selten gegeben und genau das macht die Aktualität von „Das fahle Pferd“ aus. Die lakonische Unmittelbarkeit in Sawinkows Stil ist hier noch ausgeprägter, frischer, neuer. Auch dieser Roman ist von Alexander Nitzberg wiederentdeckt und vorbildlich editiert worden und bei Galiani erschienen, allerdings nicht als deutschsprachige Erstveröffentlichung.
Sawinkows Werke zu denen außerdem noch die „Erinnerungen eines Terroristen“ zählen, wurde in der Sowjetunion bis 1928 aufgelegt und auch gelesen. Anschließend fiel der Autor der Zensur zum Opfer und erst in den 1990er Jahren wurden seine Bücher wieder entdeckt. Der in Moskau geborenen Übersetzer und Autor Alexander Nitzberg gehört zu den wichtigsten Übersetzern russischer Literatur und ist für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet wurden, unter anderem auch für die Daniil Charms Gesamtausgabe, die ebenfalls bei Galiani erschienen ist.
„Welch ein Teufel ritt mich, als Russe geboren zu werden?“ (S. 59)
Mit diesen beiden Romanen ist das schmale literarische Werk Boris‘ Sawinkows auch schon fast umrissen. Und da beide Sawinkows eigenem Erleben entsprungen sind, stellt sich dem Leser schon die Frage, was diesen Mann, der scheinbar nicht still sitzen konnte und den Kampf gesucht hat, eigentlich angetrieben hat? Von Zeitzeugen wurde Sawinkow wohl als ebenso kühl wie rational, so verwegen wie ideologielos beschreiben. Was viele Menschen als Seitenwechsel oder Opportunismus empfinden würden, ist für Sawinkow überhaupt kein Thema. Zunächst gegen das Zarenreich zu kämpfen, später zunächst mit dem Bolschewisten später gegen sie, nachdem deren totalitäre Absichten für Sawinkow offensichtlich wurden, ist in gewisser Hinsicht auch konsequent. Aber patriotisch und von einer Liebe zu Russland angetrieben ist Sawinkows Handeln nicht notwendiger Weise.
Vielmehr ist der Mann sich auch hier selbst genug und bleibt ein gesellschaftlicher Außenseiter. In der Pressemitteilung des Galiani-Verlages zur Veröffentlichung von „Das schwarze Pferd“ wird Winston Churchill, der Sawinkow persönlich kannte, dermaßen zitiert, das dem unermüdlichen Kämpfer für die Freiheit sein Schicksal erspart geblieben wäre, wäre er nicht in Russland geboren worden. Eine Einschätzung, die durchaus fragwürdig ist. Wäre Boris Sawinkow, der 1925 aus dem Fenster eines russischen Gefängnisses in den Tod stürzte, nicht überall und jederzeit ein notorischer Störenfried gewesen? Einer der immer Dagegen ist – aus Prinzip.
Die Romane des russischen Autors Boris Sawinkow (1879-1925) sind eine höchst spannende und aufrüttelnde Entdeckung. Die Unmittelbarkeit und Klarheit der knappen beinahe sachlichen Sprache und die existentiellen Themen die Sawinkow bearbeitet sind ebenso faszinierend wie verstörend. Die wunderbare und sorgfältige Übersetzung Alexander Nitzbergs rettet den Charme des Romans auch in unsere Sprache.
Roman-Wertung: (9 / 10)
Das schwarze Pferd – Roman aus dem russischen Bürgerkrieg
OT: Kon voronoi
Autor: Boris Sawinkow
Genre: Roman, Historisches
Übersetzung: Alexander Nitzberg
ISBN: 978-3-86971-145-4
Verlag: Galiani, Berlin, gebunden mit SU, 272 Seiten,
VÖ: 09.03.2017