Kaum jemand, der sich für Zeichentrickfilme interessiert, ist nicht schon einmal über das weltbekannte japanische Animationsstudio Ghibli gestolpert, das für etliche Kinoerfolge wie „Ponyo“, „Prinzessin Mononoke“ oder „Die letzten Glühwürmchen“ verantwortlich ist. Für „Chihiros Reise ins Zauberland“ gab es sogar einen Oscar. Die Doku der jungen japanischen Filmmacherin Mami Sunada blickt hinter die Kulissen des Studios und hat dabei doch hauptsächlich dessen personifiziertes Aushängeschild, Hayao Myazaki, im Auge.
„Darf ich Ihnen bitte bei der Arbeit zusehen?“ steht auf einem Zettel geschrieben, der während der Filmarbeiten am Arbeitsplatz der berühmten, inzwischen 75 jährigen Animationslegende Hayao Myazaki hängt. Und die junge Dokumentarfilmerin Mami Sunada durfte. Allerdings war es nicht einfach, die Erlaubnis dafür zu bekommen. In einem Interview bei Toronto Filmfestival erzählt Sunada, dass die Doku ursprünglich auf Anfrage von Disney Japan aufs Tablett kam. Aber der im Studio Ghibli seit Jahrzehnten für die Produktion und das Marketing zuständige Toshio Suzuki gab die Drehgenehmigung nur, wenn die Doku als Hauptfilm realisiert wird und nur die Filmmacherin selbst bei Myazaki dreht.
„Darf ich Ihnen bitte bei der Arbeit zusehen?“
Insofern und auch weil die japanische Tonspur (der Film ist mit deutschen Untertiteln ausgestattet) sich so ausgesprochen höflich und zurückhaltend anhört, wirkt „The Kingdom of Dreams and Madness“ zu Beginn geradezu irritierend ehrfürchtig. Aber das täuscht und gibt sich auch im Verlauf des Films. Grundsätzlich ist der Blick in die Arbeit des Animationsstudios nicht uninteressant und gerade einem Altmeister bei der Arbeit zuzusehen, hat schon seine Faszination. Allerdings waren die DVD- und Bluray-Veröffentlichungen des Studio Ghibli schon immer mit gutem Bonusmaterial ausgestattet und auch mit Blicken auf den Arbeitsprozess. So rückt die Person Hayao Myazaki zu Recht in den Fokus des Films – und nicht er allein, denn die Studiosituation, die die Doku begleitet ist eine besondere.
zeitgleich 2 Großproduktionen
Denn 2012 arbeitet das Studio Ghibli zeitgleich und mit unterschiedlichen Teams an gleich zwei großen Filmen, die auch noch zeitgleich in die Kinos kommen sollen. Hayao Myazakis biografisch gefärbtes letztes Werk als Regisseur „Wie der Wind sich hebt“ und auch das voraussichtlich letzte Werk von Isao Takahata „Die legende der Prinzessin Kaguya“. Obwohl Myazaki und Takahata zusammen mit Suzuki das Studio Ghibli in den 1970er Jahren gegründet und früher auch viel zusammen gearbeitet haben, haben sich die beiden Altmeister entfremdet.
Und während Myazaki mit Großonkel-mäßigem Lächeln nicht müde wird, zu behaupten, er sei ein wunderlicher Mensch, taucht Takahata persönlich überhaupt erst am Ende des Films auf. Zwischendurch nur immer wieder die Zweifel von Suzuki und Myazaki, ob „Die Legende“ überhaupt fertig wird, und die beweislosen Beteuerungen von Takahatas Assistent, das würde schon werden. Als Außenstehender ist man versucht, in diese Situation Differenzen hineinzuinterpretieren, die nicht unbedingt der Realität entsprechen müssen.
Den Großteil der Doku füllt also die Arbeit an „Wie der Wind sich hebt“, von dem schon während der Arbeit daran gemunkelt wird, es wäre Myazakis letzter Film. Das hat sich erst nachträglich bestätigt, aber dass das Studio Ghibli zukünftig keine Kinofilme mehr produzieren wolle, erwies sich mit „ Erinnerungen an Marnie“ als unrichtig.
Nicht nur zu Takahata hat Myazaki ein diffiziles Verhältnis. Dass ausgerechnet der selbst als Anime-Regisseur erfolgreiche Hideaki Anno in „Wie der Wind sich hebt“ die Hauptfigur spricht, ist eine kuriose Wendung der Dinge. Denn Annos Karriere ging erst so richtig los, nachdem sein Talent bei „Myazakis „Nausicaä- Das Tal der Winde“ entdeckt wurde. Es sollte auch nicht mehr lange dauern, bis Anno seine eigene Produktionsfirma gründete und später vor allem mit der Serie „Neon Genesis Evangelion“ und jüngst mit den Evangelion-Filmen riesige Erfolge feierte. Man darf davon ausgehen, dass Ghibli-Mastermind Myazaki nicht begeistert war, dass sein ehemaliger Mitarbeiter gegangen ist. Umso erstaunlicher (von beiden Seiten) und sehr spannend zu beobachten wie die beiden nun zusammen arbeiten. Als Bonusmaterial gibt es noch einen Kurzfilm aus Sicht der Studiokatze, der unter anderem auch einen Besuch von Pixars John Lasseter („Toy Story“) umfasst.
Fordern und Fördern
Myazaki als Künstler kann unmöglich den gesamten Entstehungsprozess eines Animes überwachen, aber während seiner täglichen Routinen, wie sehr starren Arbeitszeiten und der täglichen sportpause für die gesamte Belegschaft wird auch klar, dass der Altmeister Schwierigkeiten hat, zu delegieren. Ein Drehbuch gibt es bei Myazakis Filmen nicht, er zeichnet alles als Storyboard, die Zeichner führen nur aus, zum Teil mit gehörigem Respekt vor dem Zorn des Chefs, der in der Doku freilich nicht zu sehen ist. Auch in anderer Hinsicht wirkt Myazaki, der oft als japanischer Disney bezeichnet wird, nicht mit sich im Reinen. Die Arbeit an „Wie der Wind sich hebt“ berührt Myazaki sichtlich emotional, phasenweise kann er keine Flugzeuge zeichnen, das Ende muss diverse Male geändert werden, streitet aber ab, dass der Film autobiografische Zuge habe. Ebenso wie Hayao Myazaki oft betont, er würde am liebsten Filme für Kinder („Ponyo“) machen, dann aber doch immer wieder Aspekte in die Animes bringt, die deutlich über den kindlichen Horizont hinausgehen.
Für Anime-Fans ist „The Kingdom of Dreams and Madness“ sicher ein sehr sehenswerter und auch empfehlenswerter Film. Alle anderen erwartet eine eher typische „Behind the Scenes“ Doku, die auch ihre Längen hat.
Film-Wertung: (7 / 10)
The Kingdom of Dreams and Madness
OT: „Yume to kyôki no ôkoku“
Genre: Dokumentation,
Länge: 118 Minuten, J. 2013
Regie: Mami Sunada
Mitwirkende: Hayao Miazaki, Toshio Suzuki, Isao Takahata, Hideaki Anno
FSK: ohne Altersbeschränkung
Vertrieb: Universum Anime
DVD- & BD-VÖ: 27. Mai 2016
Copyright der Szenenbilder © 2013 dwango