Mit Korridorwelt hat der österreichische Komponist und Autor Hans Platzgumer vor zwei Jahren einen mehr als beachtlichen Roman geschrieben. Nun wandert er mit seinen Lesern hinauf auf den Gipfel und blickt in „Am Rand“ in die Abgrunde, die das Leben so bietet. In einer Prosa, die so karg ist wie die gebirgige Natur oberhalb der Baumgrenze entfaltet Protagonist Gerold Ebner seine Lebensgeschichte. Mit „Am Rand“ hat sich Platzgumer endgültig als einer der wichtigsten, zeitgenössischen österreichischen Autoren etabliert.
Früh am Morgen steigt Gerold Ebner, 42 Jahren alt, auf einen Berggipfel in Tirol. Nachdem er hier seine Lebensgeschichte notiert und am Gipfelkreuz hinterlegt hat, will er sich das Leben nehmen und über den Rand hinwegtreten. Ebner hofft, mit dem Tageslicht auszukommen und beginnt zu erzählen: Vaterlos aufgewachsen in einer nicht gerade angesehenen Siedlung aus Sozialbauten, der so genannten „Südtirolersiedlung“, erlebt Gerold Ebner schon als Kind den Tod eines alten Nachbarn, der wochenlang in seiner Wohnung liegt, bis das Verschwinden des alten Mannes überhaupt jemandem auffällt. Gerolds Kindheit ist von Außenseitertum geprägt, die Siedlung ist fest in der Hand einer Jugoslawischen Rabaukengang und Gerold hat wenige Freunde. Zu diesem zählt Guido, mit dem Gerold die Leidenschaft für Karate teilt.
„Ich suche in der Vergangenheit, weil ich die Gegenwart nicht fassen kann und mir zugestehe, von der Zukunft keine Ahnung zu haben.“ (Am Rand, Seite 51)
Als dann überraschend der Großvater im Leben von Gerold und dessen Mutter auftaucht, macht sich in der kleinen Wohnung Beklemmung breit und der jugendliche flieht in die Kellerwohnung seiner Freundin. Wohl wissend, dass der grantige alte Mann das Leben seiner Mutter dominieren wird. Und als sich der Gesundheitszustandes des ehemaligen Bergarbeiters zunehmend verschlechtert und die Mutter schon lange genug beherrscht hat, entschließt sich Gerold zu aktiver Sterbehilfe, ohne dass davon jemand etwas mitbekommt. Es soll nicht die einzige intensive Begegnung mit dem Tod in Gerolds leben bleiben.
Doch Gerold erzählt auch von glücklicheren Tagen und den wenigen Menschen, die in seinem Leben einen Abdruck hinterlassen haben: von jugendlichen Eskapaden, der überschwänglichen Suche nach Herausforderungen, dem Bekannten Platzgummer Hansi, der nach Amerika ging und seine Mofa einem Kumpel überließ, von der großen Liebe zu Elena, die so ganz anders war als der introvertierte Gerold selbst, von Gelegenheitsjobs und Beschäftigungsverhältnissen, die nichts anderes sollen, als das Geld zum Leben beschaffen.
„Gerold Ebner sitzt am Rand dieses Felsens. Wie er dort hingekommen ist, weiß ich nicht im Vorhinein. Ich will mich selbst hineinziehen lassen in etwas, ohne zu wissen, wie ich wieder herauskomme. Wenn es gelingt, beginnt der Text dadurch zu leben. Es ist aufregend.“ (Hans Platzgumer, Interview auf Verlagshomepage)
Hans Platzgumer benötigt gerade einmal 200 Seiten, um die Lebensgeschichte seines Protagonisten Gerold Ebner mit präziser und heller Klarheit aus dem Fels des Gebirges heraus zu meißeln. Anders als der nebelverhangene Gipfel auf dem Ebner seinen Lebensbericht niederschreibt, ist der Roman von außergewöhnlicher Klarheit. Mit präzisem Strich und beinahe dokumentarischer Sachlichkeit entfaltet Ebner, der schon immer Schriftsteller werden wollte, seine Geschichte. Ein Bericht von den Rändern der Gesellschaft, aus der Mitte des Alltäglichen und doch voller individueller Nuancen und Sehnsüchte.
Selbstredend ist der Tod ein großes Thema in Platzgumers „Roman „Am Rand“ und die Schilderungen vom erzwungenen Tod des Großvaters und später auch der Tod Guidos sind von erschütternder Faszination. Dabei bleibt das ethische Momentum ein weites Feld und drängt den Leser durchaus sich über das Thema Gedanken zu machen. Weniger im Sinne einer moralischen Entrüstung, als vielmehr aufgrund einer Empathie, eines Mitfühlens, bezüglich des Dilemmas, das Gerold Ebner zu bewältigen hat. Dabei macht der Erzähler den Leser nicht zu einem Mitwisser oder Mittäter, sondern stellt dem Leser frei, sich zu den Geschehnissen zu positionieren.
Im Interview (auf der Hanser Homepage) sagt der Autor dazu: „…Solche Themen ziehen sich vom breiten gesellschaftlichen Kontext in den privaten Bereich hinein, wo meine Protagonisten sich ihnen exemplarisch zu stellen haben. Fragen, die keine knappen Antworten zulassen, aber ein Schriftsteller kann sie immer wieder neu beleuchten und somit zugänglicher machen.“
Der Verlust an sich ist es, der dieses Leben prägt, die Leerstellen, die nicht wieder zu besetzen sind und die so willkürlich, so zufällig und so unabwendbar auftreten, dass dem Menschen nichts bleibt, als zu ertragen. Oder aber, sich zu entscheiden, den letzten Schritt zu tun, sich zu verweigern, nicht mehr können, oder nicht mehr wollen. Erstaunlicher Weise wird das in Platzgumers Roman und in Ebeners Geschichte zu keinem Zeitpunkt pathetisch oder bedeutungsschwanger überladen, sondern geschieht, abrupt und plötzlich, und gerade darin liegt der Schock, den dieser Roman auszulösen imstande ist.
Wie schon in Platzgumers vorangegangenem, großartigen Roman „Korridorwelt“ spielt der Autor auch in „Am Rand“ mit seiner eigenen Biografie. Baut sich, beziehungsweise eine fiktionalisierte Version seiner selbst, als Randfigur in die Geschichte Ebners ein und öffnet so Spielraum für Interpretationen, die dem Roman eine weitere Ebene verleihen, letztlich aber nur die Ränder von Fiktion und Realität im Gipfelnebel verschwimmen lassen.
Gerold Ebners Bericht ist ein Fluss, der stetig und chronologisch fließt, unterbrochen nur durch den Karate-Ausruf Hitotsu, was eins bedeutet und in der Kampfkunst nur bedeutet, dass alle Aspekte gleichermaßen wichtig, gleichermaßen vorrangig sind. Dieses nur scheinbar paradoxe Konzept des Fokussierens zieht sich als Leitmotiv durch den gesamten Roman und wird etwa in der Mitte auch ausführlicher erläutert. Darum herum fransen die Aspekte, Situationen und Sehnsüchte Gerold Ebners wie die kleinen Gebetsfahnen in Tibet.
„AmRand“, die Lebensgeschichte Gerold Ebners, ist in seiner knappen Präzision ein aufwühlender Roman. Hans Platzgumer gelingt es mit schriftstellerischer Neugier, inhaltlicher Tiefe und großem Wagemut ein Terrain am Rand des Lebens auszuloten, ohne den Leser zu vereinnahmen oder zu manipulieren. Man horcht während des Lesens unwillkürlich in sich hinein und reflektiert die Welt, in der man sich bewegt, das ist einfach großartig zu lesen.
Roman-Wertung: (9 / 10)
Am Rand
Genre: Roman
Autor: Hans Platzgumer
ISBN: 978-3-552-05769-2
Verlag, Zsolny, Hanser, Gebunden, 208 Seiten,
VÖ: 01.02.2016
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