Hans Platzgumer – Korridorwelt: Fluchtpunkt L.A.

SU_nautilusDer Österreicher Hans Platzgumer ist ein kreativer Geist. Als Musiker immer wieder auf Entdeckungsreise legt er nun seinen vierten Roman vor. „Korridorwelt“ erzählt von Julian Ogert, der sein Leben als Straßenmusiker bestreitet. Der Roman ist ebenso Entwicklungsgeschichte eines Jugendlichen wie Zeitportrait und ein Ausflug ins moderne Eremitendasein. „Korridorwelt“ ist rundherum packend. 

Ein Erdbeben erschüttert Los Angeles 1994 und Julian Ogert, Österreicher und Straßenmusiker wird von seiner Vermieterin ebenso unsanft aus dem Schlaf gerissen wie von den Erschütterungen. Dabei befällt ihn eine seltsame, gleichsam abgefuckte Ruhe, während sich die Welt der anderen um ihn herum in Trümmer aufzulösen droht. Vermieterin Eleanor flüchtet aus Angst vor Nachbeben zu diesem Erdstoß wie so viele andere auch aus der Stadt – zurück ins heimische Portland; vielleicht ganz aus L.A. wegziehen. Julian ist plötzlich der Wohnungsaufpasser und erkundet die zerrüttelte Gegend um die Yucca Street, macht zufällige Bekanntschaften, streift durch die Straßen und spielt weiter seine Gitarre auf dem Santa Monica Boulevard.

Julian erzählt seine Geschichte in der Ich-Perspektive aus der chilenischen Atacamawüste, wohin es ihn nach der Los Angeles Phase verschlagen hat. In Rückblenden wird die verstaubte Kindheit im österreichischen Linz ausgebreitet, die so jäh mit dem traumatischen Freitod der Eltern endet und eine Getriebenheit und Entwurzelung in Julian in Gang setzt. Langsam kommt die Fluchtbewegung, die ihn über Paris und New York führt in Los Angeles zum Erliegen. Nur der Impuls ist noch da, aber Julians Bewegung ist Stillstand, ein auf der Stelle treten. Ein unstetes Leben ohne Bindungen und mit vielen abgebrochenen Brücken, jederzeit bereit, zusammenzupacken und weiterzuziehen. Nicht umsonst passt Julians gesamter Besitz in einen Rucksack und seine Gitarrentasche.

„Und los. Ich eile durch den Korridor. Es fühlt sich gut an.“ (S. 168)

In gewisser Weise ist „Korridorwelt“ so etwas wie ein zwölf Jahre dauernder Roadtrip, der zunächst in der Wüste endet. Wie alle, die sich von dem Leben abwenden, auf die eine oder andere Weise in der Wüste landen. Doch die Reise ist bei dem klugen Erzähler Platzgumer auch Sinnbild für eine Suche, die sich längst selbst ad absurdum geführt hat und in der Los Angeles Periode ihren phlegmatischen Tiefpunkt erreicht. Das anfängliche Erdbeben lässt Julian im wahrsten Sinne nackt auf der Straße stehen, und niemand bemerkt es. Kann man noch unsichtbarer sein?

Doch nicht etwa das Erdbeben ist der Anstoß, auf den Julian wartet, sondern die irgendwie postapokalyptische Stimmung in der Stadt als der Alltag sich wieder Raum erobert, während der Straßenmusiker auf den eigenen Niedergang wartet.  Je weiter sich Julian von den Menschen zu entfernen versucht, desto großer wird auch die Sehnsucht nach Zusammenhangserlebnissen. An denen der Straßenmusiker immer wieder scheitert. Das ist empathisch und nachdenklich geschildert.

Platzgumer_PK©Severin-Koller1aDass der Autor Hans Platzgummer ungefähr so alt ist wie sein Protagonist heute wäre, gibt Raum für autobiographische Spekulationen. Die Frage nach deren Relevanz verliert sich aber in Nichtigkeit, weil es komplett unerheblich ist. In dieser Hinsicht habe ich als Altersgenosse des Autor den Roman auch im (zugegeben nicht gerechten) Vergleich zu biografischen Erzählungen anderer Musikschaffender gelesen, doch wo sich Rocko Schamoni in „Dorfpunks“ und Heinz Strunk in „Fleisch ist mein Gemüse“ in Humor und Selbstironie verlieren, verliert sich Platzgumers Julian in seiner fast nihilistischen Weltverweigerung. Der österreichische Teenager der Metallicas „Seek and Destroy“ auf dem Walkman hat, hat allen Grund zur Wut und keine bürgerliche Alltäglichkeit mehr, in die er zurückfallen könnte oder wollte. Das hat einfach einen anderen erzählerischen Drive.

Richtig und wichtig jedoch ist, dass der Autor durch diese zeitliche und räumliche Verortung eigene Erfahrungen überzeugend, präzise und emotional einbinden kann. Und es gibt in „Korridorwelten“ eine ganze Reihe von außergewöhnlich prägnanten Situationen, Befindlichkeiten und Analysen. Selten wurde der amerikanische Lifestyle so trefflich zugleich als Sehnsuchtsort beschrieben und zugleich analytisch auseinandergenommen. Auch der Wert von Musik als Soundtrack des eignen Lebens, etwas, das vor allem Teenager mit Pop Musik immer wieder veranstalten,  wird auf subversive Art in Frage gestellt. Und der selbsternannte Nomade Julian nutzt seinen Classic Rock Interpretationen als Kommunikationsmittel mit der Außenwelt.

Das Motiv des Korridors, der Julians Erleben prägt, taucht in mehrfacher Hinsicht auf: immer wieder der Gang durch den Flur auf jene Tür zu, hinter der sich die toten Eltern befinden, der „Corridor“ genannte heruntergekommene Bezirk von Los Angeles in dem Julian lebt und die Außenseiter des amerikanischen Traums trifft, in übertragenem Sinn der Korridor als passierbare Schneise durch fremde Hoheitsgebiete und schließlich in gewisser Weise auch als ökologische Metapher, die die Verbindung zwischen zwei isolierten Lebensräumen herstellt, also auch Julians Weg zurück in die Welt beschreibt. Der Korridor als Lebenskonzept und Fluchtweg.

Mit „Korridorwelt“ hat der vielseitige Künstler Hans Platzgumer einen wunderbaren Roman vorgelegt, der auf packende Weise viel über das Erwachsenwerden, die Musik und das Leben selbst zu sagen hat.

Roman-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

SU_nautilusHans Platzgumer: Korridorwelt
Genre: Entwicklungsroman, Musik, Roadtrip
Autor: Hans Platzgumer
ISBN: 978-389-401-7866
Verlag: Edition Nautilus, Hamburg, gebunden, 224 Seiten
VÖ: 28.02.2014

(Autorenfoto von Severin Koller)

Korridorwelt bei Edition Nautilus

(mit Leseprobe und Lesungsterminen 2014, unter anderem am 13.4.in Hamburg)

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