Als ich gerade dabei war, mir Helmut Qualtingers Lesung von Hitlers „Mein Kampf“ anzusehen, die aktuell als DVD bei Absolut Medien in der Filmedition Suhrkamp erschienen ist, kam meine Frau von der Arbeit. Es dauerte gerade mal einige Sekunden, bis die irritierte Frage kam, ob das „Mein Kampf“ sei? So sehr hat sich die unsägliche Rhetorik Hitlers in die Hirnschalen gefressen, dass sie auf der Stelle zu identifizieren ist. Der viel zu früh verstorbene österreichische Schauspieler, Schriftsteller und begnadete Rezitator Helmut Qualtinger hat sich bereits in den siebziger Jahren mit dem Phänomen „Mein Kampf“ beschäftigt und auf der Bühne daraus gelesen. Qualtingers Lesung ist keineswegs Satire oder Groteske und gerade das macht die Darbietung zu einer Offenbarung.
Als Adolf Hitler in Deutschland schon an der Macht war, hat er geäußert, er hätte „Mein Kampf“ nie geschrieben, hätte er gewusst, dass er einmal Reichskanzler sein würde. Hitler steckte wohl zu viel Autobiographisches in seiner programmatischen Schrift. Momentan ist das unsägliche Buch, das in Deutschland bis zum Anfang des Jahres mehr oder minder verboten war, hierzulande in aller Munde. Nach 70 Jahren läuft das Urheberrecht aus und wird gemeinfrei. Das Land Bayern, dass die Rechte am „Mein Kampf“ hielt und dazu nutzt, das Buch aus dem Verkehr zu ziehen, versucht dies auch weiterhin zu tun. Dazu wird nun angeführt, dass „Mein Kampf“ den Tatbestand der Volksverhetzung erfülle und daher auch weiterhin nicht nachgedruckt werden soll. Anfang Januar veröffentlichte das Institut für Zeitgeschichte eine kommentierte Edition von Hitlers „Mein Kampf“. Aber das ist eine ganz andere Geschichte, bei der das Land Bayern auch nicht gerade eine gute Figur abgab.
Gleichviel; auch die DVD zu Helmut Qualtingers Lesung ist in gewisser Weise eine kommentierte Ausgabe. Nicht nur, weil der großartige Schauspieler und geniale Rezitator den Text vorträgt, sondern auch, weil das begleitende 48-seitige Booklet zwei großartige, unbedingt lesenswerte Texte enthält: „Der denkende Sprechschauspieler“ von Willi Winkler und „Die Rhetorik in Hitlers „Mein Kampf““ von Kenneth Burke (1939), die eigentlich alles sagen, was über Helmuth Qualtingers Lesung von Bedeutung ist. Insofern sollte ich mir weitere Ausführungen einfach verkneifen.
Und dennoch: Wie soll man sich verhalten zu Hitlers mehr als 700-seitigen Pamphlet, dieser wilden und literarisch verquasteten Mixtur aus Autobiographie, politischer Agenda und kleinbürgerlicher Sündenbocksuche? Denn gerade als Deutscher muss man sich dazu verhalten. Wer will schon lesen, was Christian Hartmann, Historiker und Leiter der kritischen Ausgabe von „Mein Kampf“, in einer Arte-Doku ein sprachlich verunglücktes „Dokument der Selbstfindung“ und eine wilde Mixtur aus dem „Ideenschutt der Jahrhunderte“ nannte. Die Gefahr lauere dabei verborgen unter dem Sprachmüll, der den Leser schlicht mürbe mache.
Nicht umsonst galt und gilt Hitlers Schrift vielen als unlesbar, jedoch weniger aufgrund der vertretenen Standpunkte, sondern wegen gravierender stilistischer Mängel und ellenlanger literarischer Dünnbrettbohrerei. Womit wir elegant wieder zu Herrn Qualtinger auf die Bühne zurückkehren. Der gesteht Hitlers Schreiberei keinesfalls die Ehre zu, sie offensichtlich zu karikieren, sondern „Der Herr Karl“ höchstpersönlich liest vor, was auf diesen Seiten verewigt wurde. Der Tonfall wechselt dabei von sachlichem Vortrag zu jener „moralischen Entrüstung“, die Hitler beim Schreiben vorschwebt, von lapidarem Wegnuscheln zu schulmeisterlicher Belehrung. Das spricht für sich und in jenem Auditorium Maximum der Universität Wien am 8. Mai 1985, also am 40. Jahrestag des Kriegsendes, herrscht angespannte und konzentrierte Aufmerksamkeit und keineswegs die Ausgelassenheit eines politischen Kabaretts. Das Datum selbst ist ein unmissverständliches Statement.
In 93 Minuten widmet sich Helmut Qualtinger den literarischen Ergüssen in „Mein Kampf“ und liest aus neun Kapiteln. Adolf Hitler schrieb das Buch großteils in der Zeit seiner Festungshaft in Landsberg und stilisiert sich pathetisch quengelnd zum gesellschaftlichen Außenseiter, der sich allerdings trotz aller Kleinbürgerlichkeit moralisch überlegen fühlt. Geradezu ernüchtern wird das in der Schilderung seiner Zeit als Wiener Gelegenheitsarbeiter deutlich. Das ist auch der „Bewegung“ geschuldet, die geradezu wahnhaft schon in diesen frühen Jahren beschworen wird. Und bei aller Abseitigkeit des faschistischen, nationalsozialistischen Weltbildes, das schon in erschreckender Klarheit in „Mein Kampf“ enthalten ist, darf auch gelegentlich gelacht werden, beispielsweise wenn Hitler sich über die natürliche Paarung gleichartiger Tiere auslässt oder sich vergebens wenn die Such nach den „Kolumbussen“ macht, die ihre Eier herumliegen ließen.
Es ist trotz berechtigter Vorbehalte begrüßenswert, dass eine kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ veröffentlicht wird; nicht nur, weil das Verbot hierzulande durch die Verfügbarkeit des Textes im Internets ad absurdum geführt wird. Aber vor die Lektüre des Textes sollte der Interessierte unbedingt Qualtingers Lesung von „Mein Kampf“ stellen. Vielen wird danach die Neugier und das Interesse vergangen sein. Mehr kann man von dem schlicht genialen Vortrag nicht erwarten. Entlarvender als durch seine eigenen Worte kann man Hitler nicht entmystifizieren.
Helmut Qualtinger liest „Mein Kampf“
Genre: Lesung, Live-Mitschnitt
Länge: 93 Minuten, 1985, ORF
Extras: 48-Seitiges Booklet,
FSK: ohne Altersbeschränkung, Infoprogramm,
Vertrieb: Absolut Medien, Filmedition Surkamp, DVD-VÖ: 08.01.2016
Kapitelübersicht: 1. Braunau, 2. Wien, 3. Der Jude, 4. Der Weltkrieg, 5. Deutsche Arbeiter-Partei, 6. Volk und Rasse, 7. Die Bewegung, 8. Coburg, 9. 1923
Links um Weiterlesen:
Qualtinger bei Absolut Medien
Wikipedia-Eintrag Helmut Qualtinger
Wikipedia-Eintrag Mein Kampf
Zur kommentiere Edition beim Institut für Zeitgeschichte