Die nordischen Sagen und Legenden des „Kalevala“ sind uralt, aber am 28. Februar feiert das finnische Nationalepos, zusammengetragen von Elias Lönnrot seinen 180. Geburtstag. 1835 erschien die erste Ausgabe dessen, was der finnische Arzt und Literat Lönnrot zusammengetragen hatte. Anlass genug an dieser Stelle noch einmal auf die höchst lesenswerte Nacherzählung „Kalevala – Eine Sage aus dem Norden“ von Tillman Spreckelsen hinzuweisen, die im vergangenen Jahr im Galiani Verlag erschienen ist. Da bekommen nicht nur Fantasyfans in leicht verdaulichen Häppchen hinreißende Geschichten erzählt.
Anfang des 19. Jahrhunderts machte sich der finnische Arzt Elias Lönnrot zu Fuß auf den Weg durchs Land, um Volkssagen zusammenzusammeln. Aus den vielen einzelnen Episoden und Geschichten, die dem Gelehrten vor allem im nordöstlich gelegenen Karelien von Einheimischen mitgeteilt wurden, machte Lönnrot dann einen zusammenhängenden Schöpfungsmythos, der in Gesänge unterteilt ist. Die acht gereimten Zyklen bestehen aus insgesamt 50 Gesängen, die sich mit sagenhaften Gestalten und ihren Abenteuern beschäftigen. Zentrale Bedeutung in diesen Mythen kommt dem Weisen Väinämöinen, dem Schmied Illmarinen, der Hexe Louhi und ihrer Tochter sowie dem Frauenhelden Lemminkäinen zu.
„Väinämöinen, sagte Illmarinen, halt mich bitte nicht für blöd. Du hast die Sache schon abgemacht, nicht wahr? Aber daraus wird nichts, ins düstere Pohjola kriegen mich keine zehn Rentiere“ (S. 47)
Eine ganz besondere Beachtung verdient in diesem Zusammenhang der Gesang als mittel mündlicher Überlieferung. In der finnischen Volkskultur wurden Geschichten in Runen gesungen. Denn auch die sagenhaften Gestalten des „Kalevala“ begegneten der Welt um sich herum mit dem rechten Gesang. Dazu braucht es die richtigen Worte und die richtige Melodie, sonst ist der Zauber wirkungslos. Sicher, hier wird auch gehauen, geschmiedet und beackert wie auch anderswo, aber der Gesang als magisches Zwischenglied schafft die Verbindung zur Schöpfung, zum Herz der Dinge.
Das „Kaleveala“ wurde auch mehrfach ins Deutsche übertragen, wobei die Ausgaben völlig unterschiedliche Seitenzahlen umfassen und es mehr als fraglich ist, welcher Teil der Originaldichtung auch tatsächlich übertragen wurde. Im Internet kann der interessierte Leser das finnische Original im Projekt Gutenberg nachlesen oder auch auf eine frei verfügbare englische Übersetzung zugreifen. Doch es hilft alles nichts, die Originaldichtung, die Lönnrot zusammenstellte, ist nicht einfach zu lesen. Zum Einstieg eignet sich also eine Nacherzählung ganz wunderbar.
„Aber die Sonne erbarmte sich der Alten und sagte, dass Lemminkäinens zerstückelter Körper im Totenfluss verschwunden war. Damit lässt sich doch etwas anfangen, sage Lemminkäinens Mutter und wischte sich den Schweiß von der Stirn.“ (S. 67)
Tillman Spreckelsen, Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hatte sich schon auf Spurensuche in die isländischen Sagenwelt begeben („Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländer-Sagas“), 2011 gleichfalls von Kat Menschik illustriert und im Galiani Verlag erschienen. Nun also auf nach Karelien und in die finnische Mythologie. Und Spreckelsen gelingt es, mit lockerem Tonfall, die wendungsreichen Geschichten von Weltentstehung, Brautwerbung und Zauberei auf den Punkt zu bringen. Zuweilen wirken die leicht flapsigen Gespräche der Sagengestalten absolut witzig, besonders wenn man die Geschichten laut liest. Hier ist dem Autor eine feine Transkription in heutigen Sprachgebrauch diesseits von schwerfantastischer Alchimie und urzeitlichen Mythenpathos gelungen. Das ist höchst unterhaltsam, dabei lehrreich und macht Lust, sich intensiver mit dieser Mythenwelt auseinanderzusetzen. Mission gelungen.
Gelungen ist auch die schöne Ausstattung der Ausgabe. Das ist vor allem den ebenso kunstvollen wie stimmungsreichen Illustrationen von Kat Menschik geschuldet. Ihr Stil, der mich häufig auch an expressionistische Holzschnitte erinnert, liefert erneut einige Augenweiden ab. Immer wieder unterbricht Spreckelsen den Fluss der Erzählung mit kurzen Episoden einer Spurensuche in Finnland. Die so vermittelten Impressionen aus der Biografie des finnischen Dichters runden das Buch auf gelungene Weise ab.
Tilman Spreckelsens Nacherzählung des finnischen Nationalepos „Kalevala“ macht in erster Linie extrem viel Spaß und erweckt die wunderbaren, fantastischen Mythen und Sagen auf sympathische Weise zu neuem Leben.
Buch-Wertung: (9 / 10)
Kalevala – Eine Sage aus dem Norden
Nacherzählung von Tilman Spreckelsen, Illustrationen von Kat Menschik
ISBN: 978-3-86971-099-0
Verlag: Galiani Berlin, gebundene Ausgabe, Vierfarbillustrationen, 208 Seiten
VÖ: 14.08.2014
weiterführende Links
Kalevala in der deutschen Wikipedia
Verlagsseite Gaiani (mit Leseprobe)