Wer auf der Suche nach neuem, unabhängigem, jungem und anderem Kino ist, kommt an dem griechischen Drama „Attenberg“ nicht vorbei. Wer auf der Suche ist, weiß auch, dass er auf die eine oder andere Weise gefordert ist. Die Geschichte von Marinas sexuellem Erwachen ist vor allem intellektuell und wurde auf diversen Festivals abgefeiert. Vor allem in Venedig. Jetzt auf DVD.
Marina (Ariane Labed) ist Anfang 20, lebt mit ihrem sterbenden Vater in einer Industriekolonie an der griechischen Küste und hat in sexueller Hinsicht keinerlei Erfahrungen. Mit ihrer Freundin Bella übt sie gelegentlich Sex, betrachtet das Ganze aber eher als zoologische Studie, so wie der Tierfilmer Sir Richard Attenborough ein Rudel Gorillas beobachten würde. Als ein Ingenieur in der Kolonie zu arbeiten beginnt, nähert sich Marina ihm mit wissenschaftlicher Neugier, während sich ihr Vater gleichzeitig mit seinem nahenden Tod auseinandersetzt.
Ich kann nicht verhehlen, dass ich mit „Attenberg“ nicht viel anfangen konnte. Sicher, ich habe schnell verstanden, worauf der Film hinaus will, und mit einer gewissen Faszination zugeschaut, wohin Marinas Reise geht, dennoch erzeugt das griechische Drama in mir keinen Widerhall, an dem ich mich festhalten könnte. Das könnte, vielleicht sollte, in diese Filmbesprechung einfließen, aber dann würde eine mittelmäßige Beurteilung aufgrund meiner Verwirrung dabei herauskommen. „Attenberg“ hat mehr verdient. Der Film ist mutig, klug, cool, witzig und kritisch.
Mit beinahe klinischer Emotionslosigkeit zeigt Regisseurin und Autorin Athina Rachel Tsangari in ihrem zweiten Langfilm eine Protagonistin, die im Film ihresgleichen sucht. Beinahe autistisch hat Marina keinerlei soziale Bezugspunkte in ihrer tristen Umgebung und versucht sich die Welt mangels Kontakt anhand von Tierdokumentationen zu erschließen und zu erklären. Dass es dabei schwer ist, zu der Figur eine emotionale Beziehung aufzubauen, beruht auf Gegenseitigkeit und ist beabsichtigt. Dabei ist Ariane Labeds Darstellung absolut grandios und wurde zurecht bei den Filmfestspielen in Venedig 2010 ausgezeichnet.
Während „Attenberg“ allein schon durch das triste Setting der Industriekolonie Gesellschaftskritik übt, durchläuft Marina einen Übergangsritus, eine Initiation, die in ihrer Dualität von Liebe und Tod dem Ideal der Romantik entspricht. Dabei ist „Attenberg“ alles andere als großes, pathetisches Gefühl. Alles in dem Drama, das durchaus sein lustigen Seiten hat, ist dualistisch. Die Gesellschaftskritik wird gebrochen – und unterstrichen – von Bellas und Marinas Tierimitationen, die in ihrer balletthaften Choreographie an Monty Pythons Silly Walks erinnern. Die Stille der Bilder wird kontrastiert von einem spärlichen, aber großartigen Einsatz von Punksongs und Chansons. Marinas erste Schritte in Richtung Liebe geschehen zugleich mit den letzten Atemzügen ihres Vaters, ein Verlust und das definitive Ende der Kindheit.
Das alles vermengt sich zu einer mehr als gelungenen Inszenierung, die mit ihrem trockenen Ton mehr reflektiert als nur die Befindlichkeit der Marina. „Attenberg“ ist weit mehr als nur ein Psychogramm einer eigenwilligen, einsamen, jungen Frau.
Fazit: „Attenberg“ ist eine der erstaunlichsten filmischen Expeditionen seit langem. Mit großer formaler Konsequenz seziert das griechische Drama die soziale Kälte unserer Tage und entwickelt dabei durchaus Witz.
Film-Wertung: (7,5 / 10)
„Attenberg“
OT: „Attenberg“
Genre: Drama, OmU
Länge: 95 Minuten, GR, 2010
Regie: Athina Rachel Tsangari
Darsteller: Adriane Labed, Evangelina Randou
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Rapid Eye Movies
Kinostart: 10.05.2012
DVD VÖ: 23.11.2012
Offizielle internationale Attenberg-Homepage