Weiße Hölle Arkansas

http://wp.me/p1bxAl-1ETWährend Beth Ditto gerade mit ihrer Band The Gossip auf Europatour ist, um das aktuelle Album „A Joyful Noise“ auf die Bühnen der Welt und unters Volk zu bringen, ist mit  „Heavy Cross –Die Autobiografie“ jüngst ein Buch der charismatischen Frontfrau erschienen. Dabei geht es weniger um die Musik und die Bandgeschichte, denn um das Erwachsenwerden in der amerikanischen Provinz, ganz unten am gesellschaftlichen Rand. Für eine 31jährige mag es früh sein, eine Biografie vorzulegen, aber Beth Ditto nutzt schlicht ihre momentane Popularität, um ein Zeichen zu setzen, ein Beispiel zu geben. „Heavy Cross“ ist für eine so starke Frau ein erstaunlich schmales Büchlein, lesenswert ist es allemal. 

Ich musste erstmal nachsehen, wo den Judsonia überhaupt liegt, jenes Kaff in der Nähe von Searcy, Arkansas, in dem Beth Ditto aufgewachsen ist. Nicht allzu weit entfernt von Little Rock, der Hauptstadt des Bundesstaates, den man noch kennt, weil der ehemalige US-Präsident Bill Clinton, von hier aus 1993 in Weiße Haus aufbrach.  1981 als Beth Ditto geboren wird, war Clinton allerdings noch Gouverneur dieses Bundesstaates im Süden der USA.

„Ich bin eine durchgeknallte Person, und wenn dick und durchgeknallt zusammenkommen, kann daseigentlich nur schiefgehen.“

Beth Ditto hingegen gehört nicht zu den Privilegierten, sondern zur weißen Unterschicht, dem Trailer Trash, gerne in US-Horrorfilmen als zurückgebliebene Hinterwäldler dargestellt. Und in der Tat wächst Ditto unter Umständen auf, die alles andere als einfach zu verkraften sind. Ihre Kindheit ist geprägt von Armut, sexuellem, familiärem Missbrauch und Vernachlässigung. Doch für die schon immer mollige Beth ist das Alltag und Normalität. Erst später wird ihr wie so vielen Betroffenen  bewusst, dass dieser Missbrauch keinesfalls normal ist. Erst später tun sich Wunden auf, die Beth Ditto, die von unverwüstlichem Selbstvertrauen zu sein scheint, auch in depressive Phasen treiben.

Zuflucht, Spaß und Lebensfreude findet die Außenseiterin in der Musik und in der Einstellung der Punks, vor allem der Riot Grrls, jenem musikalischen Ausdruck weiblicher, feministischer Rebellion. Nach ihrem Umzug nach Olympia im Bundesstaat Washington, wird Beth Ditto teil der Szene, erst dort wird aus den Judsonia Freunden  die Band The Gossip. Doch dann ist „Heavy Cross“ auch schon fast am Ende. Das aktuelle musikalische Geschehen seit dem Album „Standing in the Way of Control“, das 2006 erschien und den internationalen Durchbruch für die Band bedeutete, findet auf den letzten zwölf Seiten der Autobiografie statt. Darin enthalten sind auch ihr Nackt-Cover für den New Music Express, die internationalen Modelweihen durch Modedesigner Karl Lagerfeld und  ihre erste eigene Mode-Kollektion für dicke Frauen. Denn darum geht es Beth Ditto nicht.

Vielmehr als eine Musikbiografie liest sich „Heavy Cross“ als ein Bericht über das Erwachsenwerden. Ohne zu verharmlosen, aber auch ohne allzu sehr ins Detail zu gehen, stellt Beth Ditto ihre Kindheit und ihre Jugend dar. Diese scheint keineswegs so außergewöhnlich zu sein, wie man gemeinhin hofft. Missbrauch und Vernachlässigung sind gesellschaftliche Probleme, die sich durch alle Gesellschaftsschichten ziehen, auch in unserer Gesellschaft. Wenn dann noch Armut und Drogen dazu kommen, werden diese immer gerne als Erklärung vorgeschoben. Doch es sind auch andere gesellschaftliche Aspekte, die es Außenseitern wie Beth schwer machen, in der Provinz groß zu werden. Erzkonservative, ja reaktionäre Wertvorstellungen, allgemeine Hilflosigkeit  und ein absurdes vorherrschendes Schönheitsideal machen es jungen Menschen immer schwer, zu sich selbst zu finden. Und wenn man beziehungsweise frau nicht nur dick ist, sondern auch noch entdeckt, dass man lesbisch ist, wird es nicht eben leichter Anschluss zu finden. Doch die Konsequenz und den Mut  sich trotzdem zu zeigen, als das, was man ist oder sein möchte, macht einen starken Charakter aus. Und irgendwann findet man auch seine Wahlfamilie.

„Eine Punksängerin die singen kann!“

Literarisch ist „Heavy Cross“ nicht allzu fordernd und obwohl Beth Ditto seit einiger Zeit eine eigene Kolumne schreibt, ist der Erzählton in „Heavy Cross“ häufig nahe am Geplauder. Das zielt auf junge Leserinnen, die sich sonst ihre Zeit mit Casting-Shows und Scripted Reality-TV vertreiben. Teilweise wirkt die Biografie etwas oberflächlich, aber das mag auch an der Übersetzung liegen. Außerdem hat man sich für den deutschen Markt entschieden, den großen Hit der Band Gossip „Heavy Cross“ als Titel zu nehmen. Das passt zwar thematisch  auch, aber der Originaltitel „Coal to Diamonds“  (ebenfalls ein Gossip-Songtitel, vom Album „Standing in the Way of Control“) macht die Druckverhältnisse die auf die junge Beth wirkten schon wesentlich deutlicher.

Fazit: Die Sängerin Beth Ditto ist nicht zu einer Ikone geworden, weil sie sich verstecken würde und mit dem ihr eigenen Selbstbewusstsein und Charisma setzt sie sich ein – für Dinge, die ihr wichtig sind. Damit gibt sie jungen Menschen, nicht nur Mädchen und Frauen, eine Beispiel, wie es funktionieren kann, sich selbst nicht nur zu akzeptieren, sondern sich selbst so zu lieben, wie man ist – mit allem Fehler und gegen alle Konventionen. Von Selbstmitleid oder Opferhaltung will Beth Ditto nichts wissen, sie zelebriert ihr Anderssein. Damit folgt „Heavy Cross“ nicht nur der Punk- und Riot Grrl-Philosophie sondern auch ganz der Tradition des großen amerikanischen Denkers Ralph Waldo Emerson, der überzeugt war, dass der Mensch nonkonformistisch sein muss. Beth Ditto folgt diesem Credo zwar mit rhetorisch bescheideneren Mitteln, aber das wäre dem guten Ralph ganz bestimmt scheißegal.

Buch-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

beth ditto - heavy crossBeth Ditto: Heavy Cross – Die Autobiografie
OT: Coal to Diamonds
Co-Autorin: Michelle Tea
Übersetzung: Conny Lösch
ISBN: 978-3-453-26675-9
Verlag: Heyne Hardcore, 208 Seiten, gebunden.
VÖ: 22.10.2012

Weiterführende Links:

Heavy Cross mit Leseprobe bei Heyne Hardcore 

Heavy Cross bei Randomhouse

Gossip in der englischen  und deutschen Wikipedia

Gossip-Homepage