Es hat einige Jahre gedauert den Roman „We Need To Talk About Kevin“ von Lionel Shriver, erschienen 2003, in einen Film zu verwandeln. Vor allem musste die in Briefform erzählte Geschichte in eine funktionierende Filmerzählung überführt werden. Daneben gestaltete sich die Finanzierung schwierig. Doch die Mühe hat sich gelohnt und zu Recht internationale Preise eingeheimst. Das verstörend grandiose Psychodrama “We Need To Talk About Kevin” gewinnt der Thematik Amoklauf eine neue, unerwartete und höchst persönliche Perspektive ab: Aus dem Leben der Mutter des jugendlichen Täters. „We Need To Talk About Kevin“ erscheint in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln.
Gleich die Eröffnungssequenz des Films ist verstörend: Eva (Tilda Swinton) befindet sich in einem Meer von Körpern, dass in Rot badet: Getragen, geworfen, verschlungen und absorbiert fließt der Zuschauer mit Eva durch eine merkwürdig bedrohliche und zugleich euphorische Situation. Erst dann wird deutlich, dass es sich um ein heiliges indisches Volksfest handelt – und eine verkaterte Eva erwacht in ihrem heruntergekommenen Haus in einer amerikanischen Kleinstadt.
Zwischen diesen Ereignissen liegen Jahre, in denen Schreckliches passiert ist. Nachdem die ehemalige Reisejournalistin Eva Katchadourian (Tilda Swinton) schwanger wurde, hat ihre Arbeit keinen Vorrang mehr. Stattdessen erlebt sie nach der Geburt ihres Sohnes Kevin eine seltsame Distanz zu dem Kind, die sich im Laufe der Jahre immer tiefer gräbt und die hilflose und überforderte Mutter mit einem gefühlskalten, ja bösen Kind konfrontiert. Gatte Franklin (John C.Reilley) sieht die Problematik nicht und stellt sich immer wieder auf die Seite von Kevin. Auch die Geburt einer Tochter verbessert das Familienleben nicht. Bis es schließlich dazu kommt, dass der Teenager Kevin (Ezra Miller) in seiner Schule ein Blutbad anrichtet.
Auf bedrohliche Weise vermittelt „We Need To Talk about Kevin“ die Hilflosigkeit der Mutter, eine Beziehung zu ihrem Kind herzustellen ebenso wie die scheinbare Unausweichlichkeit des Dramas, ohne dabei jedoch eine Schuldfrage zu stellen. Doch Evas Perspektive auf die Geschehnisse und ihr Leben sind keineswegs objektiv, sondern als Erzählerin ist Eva eine sehr zweifelhafte Quelle. Das ist für den Zuschauer umso interessanter, weil die Identifikation mit der von Tilda Swinton grandios dargebotenen Mutter einsetzt sobald der Film beginnt. So ergibt sich für die Ereignisse eine innere Kausalität, die allerdings nicht den Fakten entsprechen muss. In wie weit sich der Zuschauer auf ihre Perspektive einlassen will, muss jeder selbst entscheiden.
Der konstante Wechsel unterschiedlicher Zeitebenen bringt ebenso viel Verwirrung wie schrittweise Aufklärung mit sich. Doch relativ schnell wird klar, dass die aktuelle Zeitebene nach den ungeheuerlichen Geschehnissen liegt. Eva lebt noch immer in der Kleinstadt, inzwischen allein, muss sich mit schlechten Jobs über Wasser halten und ist den ständigen Anfeindungen der Nachbarn ausgesetzt, sobald sie erkannt wird. Man fragt sich, aus welchem Bußverständnis Eva sich dieser Situation weiter aussetzt?
Es ist filmisch und atmosphärisch fast perfekt wie „We Need To Talk about Kevin“ seine Geschichte erzählt. Vor allem Hauptdarstellerin Tilda Swinton zaubert eine grandiose Tour de Force auf die Leinwand. Der Alptraum aller Eltern ist in jeder Sekunde spürbar, ebenso wie Selbstzweifel, Schuldgefühle, Bemühen und Verzweiflung. John C. Riley als Ehemann, der das Problem nicht sehen will, interpretiert Franklin bis fast an das Verschwinden heran und die unterschiedlichen Kevins, insgesamt vier Inkarnationen, sind alle großartig besetzt. Ezra Miller, der den jugendlichen Kevin spielt, bietet seiner Mutter mit bösartiger, emotionsloser Coolness die Stirn.
Fazit: Die Romanadaption „We Need To Talk about Kevin“ nach der literarischen Vorlage von Lionel Schriver sucht weder nach Erklärungen noch nach Schuldzuweisungen, sondern schildert aus der verstörenden Sicht einer Mutter, wie diese im Rückblick den Amoklauf ihres Sohnes zu verarbeiten versucht. Mit einer mitreißenden Tilda Swinton in der Hauptrolle, hat der Film an sich schon genug zu bieten, aber die irritierende und künstlerisch überzeugende Umsetzung macht „We Need To Talk about Kevin“ darüber hinaus zu einer der erstaunlichsten und nachhaltigsten Filmes des Jahres.
Film-Wertung: (8,5 / 10)
We Need To talk About Kevin
OT: We Need To Talk About Kevin
Genre: Drama, Thriller
Länge: 112 Minuten, UK 2011
Regie: Lynne Ramsey
Darsteller: Tilda Swinton, Ezra Miller, John C. Riley
FSK: ab 16 Jahren
Vertrieb: Fugu Films
Kinostart: 16.08.2012