Ich weiß, was ich diesen Sommer getan habe: Urlaubslektüre

sommer-am-meerDer Sommer 2012 ist zwar noch lange nicht vorbei und im August klappt’s auch endlich mal mit konstant gutem Wetter, zumindest die meiste Zeit und in den meisten Gegenden der Republik. Meine Auszeit allerdings liegt schon hinter mir, unschwer zu erkennen an der geringen Zahl von Artikel in den letzten Wochen. Der Alltag hat mich wieder; und zwar um einige grandiose Lesereisen reicher. Wer noch Tipps für den Leseurlaub braucht, findet vielleicht die eine oder andere Anregung.

Wer sich gepäcktechnisch nicht sonderlich beschränken muss, hat das Privileg, mehr Lesefutter ans Meer schleppen zu können, als überhaupt benötigt wird. Die Vorauswahl ist zwar immer ein bisschen schwierig, aber wer weiß schon, worauf er in den kommenden Wochen Lust hat. Und gerade im Sommerurlaub gilt das Lustprinzip. Aber wie viele andere Dinge auch, hat auch jede Geschichte und jedes Buch den richtigen Zeitpunkt. Ungelesen bleiben diesmal sämtliche Krimis, weil mir nicht nach Mord und Totschlag war und mich auch die vermeintlich lineare Handlung einer Ermittlung nicht sonderlich angesprochen hat. Stattdessen war, in der Rückschau betrachtet, wohl „sich treiben lassen“ das Motto. Hermann Hesse „Das Grasperlenspiel“ ging ebenso ungelesen wieder mit nach Hause wie auch das Edgar Polgar Lesebuch, James Micheners „Colorado Saga“ und andere. Bei den verschlungenen Büchern waren erstaunlicher Weise auch keine Enttäuschungen dabei. Alles mehr oder minder Volltreffer. Und hier beginnt mein Lesesommer 2012:

toreau-waldenHenry David Thoreau „Walden – Oder Leben in den Wäldern“ stimmt auf eine gewählte Einsamkeit ein. Dass der amerikanische Denker, Essayist und ja vielleicht auch Philosoph, seinen Landsleuten 1854 mal vorführen wollte, wie bescheidenes, selbstbestimmtes Leben funktioniert, ist nach wie vor lesenswert. Zwar macht es sich Thoreau bei der Schilderung seines Ausflugs in die Wildnis argumentativ ein bisschen zu einfach und neigt gelegentlich auch zu plakativer Darstellung, aber die Faszination seines Experiments ist ungebrochen. Kein Wunder, dass „Walden“ so einflussreich war. Auch heutige Leser können daraus auf unterhaltsame Weise Kapital schlagen. (306 Seiten, Anakonda ).

Buch-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

foster-wallace-besenNach diesem Einstieg ist David Foster Wallace „Der Besen im System“ die richtige Abwechslung – und ein absoluter Knaller. Die Story einer jungen Frau, deren Großmutter auf mysteriöse Weise aus einem Altersheim verschwunden ist, macht einfach Spaß. Die Familie ist unglaublich schräg drauf und die Erzählung wird auch noch um den weit älteren Freund bereichert, des als Verlagschef ständig irgendwelche eingesendeten Geschichten erzählt. Außerdem gelingt es David Foster Wallace, in seinen Romanerstling noch einige höchst erheiternde Sitzungen beim Therapeuten in die Handlung einzubauen und etliche sehr gelunge und eigenwillige Charaktere durch die Story zu lotsen. Großes, sehr unterhaltsames Kino, wenn auch das Ende etwas überraschend kommt. (624 Seiten, Rowohlt)

Buch-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

stephenson-confusionNeil Stephensons hochgelobte „Barock-Trilogie“ steht schon länger im Regal. Wann kommt man schon mal dazu, die jeweils etwa 1000 Seiten umfassenden Wälzer in Ruhe zu lesen? Eben, im Urlaub. Nun also „Confusion“ , der Mittelteil der Trilogie. Stephenson schreibt grandios, mit Witz und fulminant, schafft es locker eine ganze Epoche wiederauferstehen zu lassen. Naturwissenschaft, Wirtschaft und Kultur der Zeit werden über verschiedenen Hauptakteure und Handlungsstränge verteilt und das Ganze literarisch so unterhaltsam verstrickt, dass der Sog der Trilogie unbändig wächst. Nach dem gelegentlich weitschweifigen ersten Band „Quicksilver“ kommt „Confusion“ erstaunlich schnell in günstige Winde und segelt mit hoher Geschwindigkeit durch die Terra Incognita des menschlichen Lebens. Hab mich schon geärgert, dass ich den abschließenden Band „“Principia“ nicht dabei hatte, aber ich wollte auch noch anderes lesen. So dauert die Vorfreude noch etwas länger. (1018 Seiten, Manhattan).

Buch-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

palahniuk-kainsmalNach zwei eher längeren Geschichten ist jetzt was Kurzes dran: Chuck Palahniuk: „Das Kainsmal“. Der “Fight Club“ Autor hat von seiner Bissigkeit wenig eingebüßt und gilt nicht zu Unrecht als literarische Geißel Amerikas. In Stil einer Oral History, also durch „Zeugenaussagen“, vollzieht das „Kainsmal“ die absonderliche Lebensgeschichte von Rant nach, der eine Affinität zu Giften hat und schon als Kind anfängt, sich von Spinnen und Schlangen beißen zu lassen. Irgendwann ist‘s dann Tollwut und Rant wird zum Auslöser einer neuen amerikaweiten Epidemie. Irgendwann in der Mitte driftet „Das Kainsmal“ dann stimmig, aber unerwartet und schräg ab und nimmt das Thema Zeitreise auf, ohne seine unterschwellige Bosheit zu verlieren. Tough Stuff, nicht für jederman und ich bin auch nicht sicher, alles verstanden zu haben. Dennoch ein erstaunliches, großartiges Buch. (352 Seiten, Manhattan).

Buch-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

thompson-rum-diaryHunter S. Thompson „Rum Diary“ kommt da erzählerisch schon fast bieder daher. Die gerade im Kino laufende Story des Journalisten Paul Kemp, der sich Ende der 1950er auf Puerto Rico seinen journalistischen Lebensunterhalt verdient, hat deutlich mehr Facetten, aber weniger Slapstick als die Filmversion. Heute ist schwer nachzuvollziehen, warum dieser mitreißende und gelungene Roman seinerzeit keinen Verleger fand und erst 1998 erschien, als Thompson schon der Inbegriff des Gonzo-Journalismus war. Wie auch immer, „Rum Diary“ ist vielleicht etwas weniger polemisch und scharfzüngig als vom Autor gewohnt, doch Hunter Thompsons literarisches Alter Ego Kemp, der die Story in ich-Form erzählt, säuft sich solide durch eine katastrophale Arbeitssituation bei einem Provizblatt. Einfach schöne Loser-Literatur. (283 Seiten, Rowohlt)

Buch-Wertung: 7 out of 10 stars (7 / 10)

hier geht’s zur Filmkritik von „Rum Diary“

pynchon-gegen-den-tagUnd dann kommt das große Finale mit dem epischen Wurf, den Kultautor Thomas Pynchon „Gegen den Tag“ nennt. Was soll ich denn nun dazu sagen? Vor allem weil die 1600 dichtbedruckten Seiten mit ihren fremdwortgebeutelten Sätzen, die häufig eine halbe Seite lang sind, nicht mehr im „Resturlaub“ zu schaffen waren. Ich kaue noch am letzten Ende. Pynchons absurd anmutendes weltgeschichtliches Panorama startet mit dem Fesselballon von der Chicagoer Weltausstellung 1893 und schlängelt und schwebt zielsicher auf den ersten Weltkrieg zu. Dabei ist es schier unmöglich, die Unmenge an Protagonisten kurz zu umreißen oder überhaupt mal zu sagen worum es geht: Letztlich bewegt sich „Gegen den Tag“ zwischen Dynamit und kristallinem Islandspat, zwischen Anarchismus und Relativitätstheorie, zwischen jugendlichem Abenteuerroman und physikalischer Philosophie. Man könnte das Ganze auch als Familiengeschichte des amerikanischen Sprengstoffexperten Webb Traverse lesen, dessen Kinder sich wie Vektoren oder Querbalken durch den Roman strecken. Die Familie heißt ja nicht umsonst so. Wie auch immer, die ersten 300 Seiten geben sich wechselnde Charaktere die Klinke in die Hand, um jeweils ausufernd ihre Lebensgeschichte loszuwerden. Danach entfaltet sich das Pynchon übliche Panorama allerdings mit höchster Lesefreude. (1600 Seiten, Rowohlt).

Buch-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Soviel zum Thema Sommerlektüre.

Meersstrand