Nach dem soliden Auftakttag des Filmfests in Hamburg setze ich heute auf Risiko und lasse sowohl „The Extra Man“ als auch „Heartbeats“ zugunsten der Kinder- und Jugendfilme aus. Und ich werde belohnt: „Belka und Strelka“ ist sehr unterhaltsam, „Spork“ ein absoluter Hammer. Weiter geht’s am Abend mit „Klaus Wildenhahn“ und „Nowhere Boy“. Henna Peschels „Pete the Heat“ geht nicht mehr in meinen Schädel und findet ohne mich statt.
Als ich aufwache, kommt mir der Kurzfilm von gestern in den Sinn. „Kaffee und Kippen“, um den Tag in Fasson zu bringen. Kann man von Filmen auch verkatert sein? Definitiv. Mir wird klar, was ich sowieso wusste: Ich werde kaum durchhalten, jeden Tag fünf Filme zu sehen. Am Samstag waren’s immerhin vier.
Doch das Motto des Tages waren (unerwartete) Menschenaufläufe, durch die ich hindurch musste. Das fing schon auf der Fahrradbrücke an, wo sich eine Horde Fotografen tummelte und wild drauflos knipste. Volkshochschule auf Exkursion? Auf jeden Fall auf der Fahrbahn.
Auch Erwachsene beim Michel gesichtet
Ich habe mit mir gerungen. An „The Extra Man“ hatte ich hohe Erwartungen, da „American Splendor“, das Debüt des Regie-Paares Spinger Bergmann und Pulcini, einer meiner Lieblingsfilme ist. Dennoch entscheide ich mich für das russische Animationsabenteuer „Belka und Streka“, das im Michel-Programm läuft, da die Wahrscheinlichkeit, den Film sonst nie wieder zu sehen, größer ist.
„Belka und Strelka“ basiert auf der wahren Geschichte der beiden Weltraumhunde, die vor 50 Jahren lebend aus dem All zurückkamen. In Russland und unter Raumfahrtbegeisterten sind die beiden ebenso bekannt wie Laika, das erste Lebewesen im All. Grund genug, den beiden anlässlich des 50. Jahrestages der erfolgreichen Mission ein filmisches Denkmal zu setzen.
Die russische Animation hat absolut internationalen Standard und braucht sich nicht hinter der namhaften Konkurrenz zu verstecken, schafft es dabei gleichzeitig, ihre russische Identität auch zeichnerisch zu behalten. Ganz in Stil großer Animationsabenteuer begeistert „Belka und Strelka“ mit viel Wortwitz und Liebe zum historischen Detail. Gut, der Wortwitz geht bei der Live-Einsprechung des Deutschen notgedrungen etwas unter, aber unterhaltsam war’s allemal. Im Abspann gab es dann noch dokumentarische Bilder der tierischen Helden. Am 9.10. ist der Film nochmals zu sehen. Perfekte Unterhaltung für die ganze Familie (6/10).
Weil ich schon mal auf das jugendliche Publikum eingestellt war, gebe ich „Spork“ den Vorzug vor dem Abschlussfilm „Heartbeats“. Die Vorankündigung klingt vielversprechend, der Regisseur und Drehbuchautor ist anwesend und albert zur Einstimmung ein bisschen rum und dann
...kommt die Überraschung des Festivals.
Die Story von „Spork“, die 14 Jahre alt ist und in der Schule gemobbt wird, weil sie nicht nur schräg aussieht, sondern ein Hermaphrodit ist, ist an sich schon gewagt als Thema für einen Jugendfilm. Spork weiß selbst nicht so genau, ob sie nun Männlein oder Weiblein ist, daher auch der Spitzname (vielleicht mit „Göffel“ zu übersetzen) nach einer Mischung aus Spoon (Löffel) und Fork (Gabel). Spork lebt mit ihrem erwachsenen Bruder in einem Wohnwagen, weil ihre Mutter schon früh verstorben ist.
Aus dieser hochtragischen Situation spinnt Regisseur Ghuman eine tiefschwarze aber immer liebevolle Komödie, die sich einer deutlichen Sprache bedient und die Normalos ganz schön alt aussehen lässt. Dabei neigt der Film, wie sich das für die Pubertät gehört, immer wieder zu genialer Infantilität.
Zwischendurch habe ich mich immer mal wieder gefragt, ob das alles so jugendtauglich ist, oder „Sporks“ doch eher ein Erwachsenenfilm ist? Aber nein, der Film ist eindeutig auf eben die junge Zielgruppe zugeschnitten, die hier auch dargestellt wird. Und mal ehrlich, in dem Alter sind Kids schon schräg und derb, ohne recht zu wissen, was sie da tun. Nichts anderes bildet „Spork“ ab. Ein großartiger Film, der am Montag noch einmal zu sehen ist. Reingehen!!! (9/10)
Wer immer noch Entscheidungshilfe braucht, findet auf youtube ein Interview mit dem Regisseur.
Eine Revolution der Filmproduktion
Und während sich vor der Leinwand der Regisseur zur Auskunft bereitmacht, rase ich ins nächste Kino, um mich mit Klaus Wildenhahn zu beschäftigen. Der gibt mir auch gerade etwas irritiert die Klinke der Saaltür in die Hand, da ich die Einführung verpasst habe. Was folgt, ist ein Porträt über den deutschen Dokumentarfilmer.
„Klaus Wildenhahn – Direkt! Public und Private“ heißt die Doku von Quinka F. Stoehr anlässlich des 80. Geburtstages des Protagonisten. Der Film begleitet den außergewöhnlichen Dokumentarfilmer ganz im Stil des von Wildenhahn in Deutschland eingeführten „direct cinema“ eine Weile. Zwischendurch gibt es allerdings immer wieder Einspielungen seines Werkes und mir wird mal wieder klar, dass da noch ein ganzer Filmkontinent auf mich wartet.
Ein schöner und intimer Ausflug in die Welt des Dokumentarfilms, eine Zeitreise und eine Inspiration. Was soll man da jetzt lange über filmische Formalismen laborieren. Das landet dann höchstens bei ähnlich salbadernden pseudointellektuellen Fragen, wie sie nach dem Film an die Beteiligten gingen. Klaus Wildenhahn bleibt gelassen (6/10).
Ich komme nicht aus’m Kino, ohne extrem unhöflich zu sein und muss schon wieder in die nächste Vorstellung hecheln. Komme mir schon selbst vor wie der „Nowhere Boy“. Aber auch hier verpasse ich nichts Substantielles, da die Festivalmacher das Entertainment vor die Arbeit gestellt haben. Julia Westlake präsentiert gewohnt charmant zunächst einen Barden samt Band, der wie einst Lennon von der Insel nach Hamburg kam und dem willigen Publikum nun sowohl eigene als auch Beatles-Songs kredenzt. Äußerst entertaining und der Stimmung hilft’s. Not my cup of tea, anyway.
Als John Lennon jung war…
„Nowhere Boy“ also, ein Spielfilm über die Jugendjahre des John Lennon, gedreht von der Konzeptkünstlerin Sam Taylor-Wood mit Untersützung von Yoko Ono und Starbesetzung. „Kick-Ass“ Aaron Johnson gibt dem jungen Lennon ein Gesicht und macht seine Sache ebenso gut, wie Ann-Marie Duff, Kristin Scott-Thomas und Thomas Sangster. Und dennoch bleibt das Leinwandgeschehen in meinem Fall seltsam unberührend.
Aber wie soll man sich einer Ikone auch nähern, ohne allzu viele Fan-Erwartungen zu enttäuschen? Das muss zwangsläufig im Mainstream enden, was an sich nicht verkehrt ist. Mit anderen gefeierten Sänger-Biografien wie „Ray“ oder „Walk the Line“ lässt sich „Nowhere Boy“ schon aufgrund seiner Beschränkung auf Lennons Jugend nicht vergleichen. Andererseits bleibt der Film häufig an der Oberfläche der Geschehnisse und ist filmisch ziemlich konventionell ausgefallen. Meiner Ansicht nach wäre da mehr drin gewesen, als gute Unterhaltung. „Nowhere Boy“ startet am 9. Dezember in den deutschen Kinos (6/10).
Auf dem Weg hinaus komme ich noch an der „Pete the Heat“-Posse vorbei, die ganz solide mal einen ausrangierten Polizeipanzer zum Werbeträger umfunktioniert haben und den Verkehr am Dammtor behindern. Eigentlich wollt ich nun auch in die Premiere, muss aber anerkennen, dass der Schädel voll ist und ich keine aufgekratzten Menschenmassen mehr verkrafte. Einfach zu wenig Regenerationszeit zwischen den Filmen.
Abflug. Morgen ist auch noch ein Tag. Zum Schluss noch meine Top 5. Die mich ehrlich gesagt selbst überraschen, da ich die beiden Favoriten absolut nicht auf Zeile hatte.
Top 5 vom Filmfest Hamburg 2010
1. „Spork“
2. „Das Labyrinth der Wörter“
3. „Oldboys“
4. „This Movie is Broken“
5. „The Child Prodigy“
Bis morgen.
Ein Kommentar