Sleep Little Baby: Taxi-Fahrer

Der Comic-Verlag Schreiber & Leser zaubert mit schöner Regelmäßigkeit hinreißende Comics für Erwachsene aus dem Ärmel. Häufig sind das auch Titel, die schon ein paar Jahre auf dem Buckel haben, und oft genug sind die Ausgaben wunderbar aufgemacht. So auch der extrem coolen Thriller „Sleep Little Baby“. Bitte einsteigen in das Yellow Cab im nächtlichen New York der 1990er. Joe Telenko fährt…

…aber Joe fährt nicht gerne. Das hat Gründe, Gründe aus denen er nur Nachtschichten fährt und tagsüber schläft und Joe findet sein Leben auch ziemlich beschissen, aber er macht trotzdem weiter. Beschissen ist’s, dass seine Frau Martha ihn hasst und angiftet, sobald er die Wohnung betritt. Joe kann’s nicht mehr hören und denkt immer häufiger daran, die Alte umzubringen, genau wie Martha ihren Gatten auch am liebsten zur Hölle fahren ließe.

Als Joe eines nachts überfallen wird, will der Zufall es, dass er an eine Knarre kommt. Doch bevor er einen Plan aushecken kann, tun sich neue Möglichkeiten auf. Ein angeschossener Dieb braucht Joes Taxi als Fluchtauto, wird aber ohnmächtig. Joe bringt den Gauner in Sicherheit und schlägt ihm einen Deal vor…

„Go to sleep little baby, go to sleep…

Der belgische Comic-Autor – oder wie man in der franko-belgischen Szene sagt, Szenarist – Phillippe Vanderfelde alias Tome hat lange Zeiten seiner Schaffens als Assistent und Mitarbeiter anderer Comic-Künstler verbracht. Beispielsweise war er Miterfinder von „Spirou und Fantasio“. Nur selten und in seinem viel zu kurzen Leben (Tome verstarb 2019 im Alter von 62 Jahren) schrieb Tome etwas Eigenes. Das ebenfalls bei Schreiber & Leser wiederaufgelegte „Die Straße nach Selma“ mit Zeichner Philip Berthet gehört dazu und eben „Sleep Little Baby“ mit Zeichner Ralph Meyer.

Der französische Künstler Ralph Meyer ist hierzulande vor allem bekannt durch seine beiden Comic-Serien mit Autor Xavier Dorison, „Asgard“ und „Undertaker“, die im Splitter Verlag herausgebracht werden. „Sleep Little Baby“ besteht aus drei Einzelalben, die hierzulande um die Jahrtausendwende schon einmal im Speed Verlag veröffentlicht wurden. Damals unter dem Titel „Tödliches Wiegenlied“, was dem Originaltitel „Berceuse Assassine“ näher kommt, als der neue Titel von Schreiber und Leser, der allerdings auch seine Berechtigung hat. In Frankreich erschien die Gesamtausgabe im Jahr 2004. Aber nun genug mit der Vorstellung der Kreativen und Hintergründe und hin zu den Gründen, warum „Sleep Little Baby“ ein herausragender Crime Noir Titel ist.

„…mammy and daddy have gone away and left nobody fort to mind you…”

Erzählerisch ist der erste Band der Trilogie klassischer schwarzer Thriller aus den 1990ern. Der Antiheld ist abgehalftert, mittelalt, frustriert und hat‘s mit dem Herzen. Das nächtliche Setting ergibt seine eigene Finsternis, nämlich jene des „Herz des Taxifahrers“ und selbstredend kommen einem sofort Assoziationen zu Martin Scorseses „Taxi Driver“ in den Sinn. Doch dann entwickelt sich die Geschichte anders und es werden weitere, modernere Referenzen herangezogen. Nicht umsonst glotzt der aufgegabelte angeschossene Dieb Quentin Tarantinos „Reservoir Dogs“ in Dauerschleife. Doch Tome ist ein souveräner Erzähler und so bleibt es bei einer ikonischen Szene, um dieses Terrain abzustecken.

US-Amerikanischer Lifestyle und auch die verschiedenen Genres haben die französische Comic-Kultur schon immer beeinflusst, die daraus dann ihr ganz eigenes Ding gemacht hat. Man denke nur an Girauds (Moebius) „Blueberry“-Western-Serie. So gelingt es auch Tome etwas eigenes und kraftvolles zu erzählen.

„…so rockaby and don’t you cry…”

Vor allem gelingt das, da dieses gezeichnete Tryptichon die Perspektive in jedem der drei Bände wechselt. So beginnt jedes Einzelalbum mit einen Aha-Erlebnis für die Leser:innen und die bislang bekannt erzählerische Wahrheit wird durch neue Einblicke relativiert, bereichert bis sich ein ganz anderes Bild ergibt. Diese Perspektivwechsel machen das Salz in der Suppe aus, sie bleiben immer nahe an der Dunkelheit des Genres, tauchen aber in ganz andere Bereiche des Daseins ein.

Alle erzählerischen Schönheit nützte „Sleep Little Baby“ nichts, wäre nicht auch die illustratorische Umsetzung stark und dem Sujet angemessen. Stilistisch zeichnet Ralph Meyer markige und definierte Charaktere, bei denen ich eine gewisse Ähnlichkeit zum britischen Comic-Künstler Glen Fabry feststelle. Fabry ist vor allem für seine großartigen „Hellblazer“ & Preacher-Cover bekannt und für seinen realistischen, detailreichen Stil. Das kann man so auch für Ralph Meyer übernehmen. Vielleicht sind die klassischen Cartoon-Elemente in den Nebenfiguren noch etwas ausgeprägter.

„…go to sleep little baby.“ (traditionelles, amerikanisches Wiegenlied)

Eindrucksvoll und wuchtig ist aber auch das Farbkonzept in „Sleep Little Baby“: Alles ist in Sepiatönen gehalten, Schwarz konturiert, die erzählerischen Textblasen sind blassgelb unterlegt und haben die Anmutung von Notizzettel aus einem Ringbuch. Dazu gibt es in fast jedem Panel einen neongelbes Element, dass nicht nur die Taxi-Lackierung fortschreibt sondern auch der einzige Farbfleck im Leben der drei Charaktere ist, die in „Sleep Little Baby“ auf so traumatisierende Weise zusammengeführt wurden. Zumindest bis der Weg der dritten Figur ans Ziel geführt hat. Und auch hier weiß die Story wieder mit einer überzeugenden unerwarteten Wendung zu gefallen.

Abschließend gibt es in der Hardcover-Ausgabe auch noch einige Bonus-Seiten mit starken Promo-Zeichnungen von Meyer. Ähnlich dem Sonderdruck, der der limitierten Vorzugsausgabe (111 Exemplare) beigefügt ist. Außerdem lassen verworfene Text-Bausteinen von Tome darauf schließen, wie der Entstehungsprozess für die Story gelaufen sein mag. Das Zusatz-Material ist für sich genommen auch stark, gibt aber vor allem einen Eindruck wie das Ganze ausgesehen hätte, wenn die Kreativen sich für einen konventionelleren Weg entschieden hätten. Glücklicherweise ist „„Sleep Little Baby“ so geworden, wie es ist.

Das farbreduzierte grafische Konzept der Crime Noir Trilogie „Sleep Little Baby“ ist ausgesprochen atmosphärisch und düster ausgefallen. Das Gelb zuckt durch die Panels wie Kopfschmerzen und gibt die nervöse Anspannung der Story großartig wieder. Die Story lebt von ihren drei unterschiedlichen Perspektiven, die jeweils einen Einzelband füllen und sich zu einem außergewöhnlichen Thriller zusammenfügen.

Comic-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

Sleep Little Baby –Gesamtausgabe
OT: Berceuse Assassine – L’Intégrale compléte, Canard, 2004
Genre: Comic, Thriller, Krimi
Autor: Tome (Philippe Vandevelde)
Zeichnungen und Farbe: Ralph Meyer
Übersetzung: Thomas Strauss mit Omür Gül,
Verlag: Schreiber & Leser,Hardcover, 168 Seiten
ISBN: 978-3965820289
VÖ: 07.07.2020
„Sleep Little Baby“ bei Schreiber & Leser