Ich war schon traurig, bevor ich „Westend“ aufgeschlagen habe. Dabei ist der womöglich letzte Nachklapp zu Volker Kutschers „Gereon Rath“ Krimi-Reihe kein Grund Trübsal zu blasen. In der von Künstlerin Kat Menschik kuratierten und illustrierten Buch-Reihe „Illustrierte Lieblingsbücher“ markiert „Westend“ die dritte Zusammenarbeit mit Kutscher und den Abschluss einer kleinen Rath-Trilogie. Den Ansprüchen der Buchreihe entsprechend ist „Westend“ einmal mehr hinreißend und außergewöhnlich gestaltet.
Anno 2025 findet Herr Keyser im Nachlass des jüngst verstorbenen Geschichtsprofessors Hans Singer zwei Kompaktkassetten mit Interviews. Keyser ist wissenschaftliche Hilfskraft am Historischen Seminar in Köln und transkribiert die Bänder. Dabei handelt es sich um Interviews mit den ehemaligen Kriminalbeamten Gereon Rath, die 1973 geführt wurden. Zu diesem Zeitpunkt war Rath im Seniorenheim „Westend“ in Berlin untergebracht.
Das ursprüngliche Thema des Gespräches ist die Polizeiarbeit in der Weimarer Republik. Ganz besonders Raths Mitarbeit in der Mordabteilung der Berliner Kripo. Diese war seinerzeit weltberühmt und in den Methoden der Kriminalistik führend. Vor allem war ist dies auf die akribische Führung des Kriminalbeamten Ernst Gennat zurückzuführen.
Doch das Gespräch kommt auch immer wieder auf des wendungsreiche Schicksal Gereon Raths zu sprechen. Der war 1936 bei einem Polizeieinsatz spurlos verschwunden und wurde später für tot erklärt. Erst nach dem Krieg trat Rath, inzwischen mit US-Amerikanischer Identität. bei der Beerdigung seiner Mutter wieder in Erscheinung. Anschließend nahm er seine wahre Identität wieder an und wurde Teil der Kriminalpolizei de Bundesrepublik.
Das Interview
Die Krimi- beziehungsweise Thriller-Reihe um Gereon Rath gehört zu den erfolgreichsten Serien des Genres. Dazu hat sicherlich beigetragen, dass der erste Band „Der nasse Fisch“ (2007) von Regisseur Tom Tykwer zu einer der aktuell erfolgreichsten deutschen TV-Serien adaptiert wurde. „Babylon Berlin“ verfilmte auch weitere Romane der Reihe.
Autor Volker Kutscher hat seinem Kriminalbeamten der Weimarer Republik auch Kurzgeschichten verfasst. Und in der Reihe „Illustrierte Lieblingsbücher“ mit Bebilderung von Kat Menschik hat der Autor zuvor bereits zwei Bände aus dem Gereon Rath Kosmos vorgelegt. „Moabit“ und Mitte“. Darin ging es um die Geschichte von Raths Ehefrau Charlotte und die Story von deren Ziehsohn Fritz Thormann.
Nun folgt „Westend“, ebenfalls betitelt nach einem Berliner Stadtteil und als Coda für die Krimi-Reihe, als letzter Vers im Rath-Gedicht. Den zehnten und wohl letzten regulären Roman der Reihe, schlicht „Rath“ betitelt, veröffentlichte Volker Kutscher im vergangenen Jahr. Nun also ein Interview aus den Nachlass eines Historikers.
Dennoch: Mensch weiß nie, ob Kreative noch einmal zu ihren erfolgreichen Charakteren zurückkehren. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auch Krimi-Autor Friedrich Ani hatte seien „Süden“ ursprünglich auf 10 Vermissungen angelegt.
Für Gereon Rath Fans ist „Westend“ eine gelungenen Wiederkehr des vermeintlich auserzählten Kommissars. Vor allem, weil Volker Kutscher als versierter Erzähler einiges offen gelassen hatte. Und nun ergreift er die Möglichkeit noch einmal Revue passieren zu lassen. Aus der sicheren zeitlichen Entfernung der doppelten Rückblende und Erinnerung. Doch Vorsicht, die die Rückschau ist nicht immer nur nostalgische Verklärung. So changiert Kutscher gekonnt und packend zwischen Interview und Verhör, zwischen Unterstellung und Glaubhaftigkeit. Skepsis ist angebracht.
Das Verhör
Und doch ist Gereon Raths Erinnerung nur die eine Hälfte der Faszination dieses schillernden Buches. Künstlerin und Grafikerin Kat Menschik kuratiert im Galiani Verlag ihre eigene Buchreihe. Die „Illustrierten Lieblingsbücher“ erscheinen seit 2016, als Kafkas „Der Landarzt“ den hinreißenden Buchreigen eröffnete. Alle Veröffentlichungen der Reihe sind nicht nur durch ihre individuellen Illustrationen gekennzeichnet, sondern auch durch ihre herausragende und häufig opulente Ausstattung.
„Westend“ reiht sich im Farb- und Illustrationskonzept ein in die „Trilogie“ der Kutscher Veröffentlichungen. Vor allem ist das der Dreiklang aus Echtfarben, der den Druck bestimmt. „Westend“ ist in Orange und Brauntönen gehalten. Das passt sowohl zur 70er Jahre Deko-Tapete als auch in den beginnenden Dreißiger Jahre, in denen der Nationalsozialismus die deutsche Gesellschaft formt.
Zudem wirkt auch der Leineneinband mit den tiefgeprägten Titelillustrationen wie ein Buch aus jener Epoche. Das Seitenlayout mit den orangenen Sprechern und den braun gedruckten Aussagen gehört ebenso wie die in braunem unterstrich eingebettete Seitenzahl zum exquisiten Gesamtkonzept. So auch die Kapitel teilenden einseitigen Illustrationen, die das Interviewgefühl widerspiegeln. Und sich stilistisch komplett von jenen unterscheiden, die die Geschehnisse illustrieren.
In jenen Szenen kommt beinahe etwas Siebdruckartiges zum Tragen. Und so wirken die Szenen und Porträts wesentlich lebendiger und vieschichtiger – und zugleich distanzierter und schemenhafter. Das ist schon große Kunst. Und (zumindest für mich) Anreiz genug, durch dieses dieses literarische „Westende“ zu spazieren.
„Macht das einen Unterschied?“
Nu je, die regelmäßige Vorstellung „illustrierter Lieblingsbücher“ auf diesen Seiten sollte längst deutlich gemacht haben, dass ich diese Buchreihe sehr zu schätzen weiß. Nicht ohne Grund bewirbt der Galiani Verlag die Illustrierten Lieblingsbücher als „eine der schönsten Buchreihen der Welt“. Kann mensch auch sammeln, oder verschenken. Oder beides.
Ach ja, warum ich traurig wurde. Tatsächlich hat mich der Leineneinband daran erinnert, wie handwerklich liebevoll das Kulturgut Buch einst ausgestattet war. Statt heute alles virtuell auf den E-Reader zu kloppen, gab es Zeiten in denen Buchbinder ein respektierter Handwerksberuf war. Und sehnsüchtig streichele ich übe die Titelprägung des „Westend“ und mir kommen die Romane des Malik Verlages in den Sinn, einst passioniert gesammelt. Aber das ist eine andere Geschichte. Da kann mensch schon mal eine Träne vergießen.
„Westend“ ist eine erzählerisch direkte und grafisch und haptisch tröstende (letzte Begegnung mit Dem Mann und dem Mythos Gereon Rath. Packend und betörend wie immer. Oder mit Hermann Hesse: „Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.“
Volker Kutscher: Westend
In der Reihe: Illustrierte Lieblingsbücher #20
Autor: Volker Kutscher
Illustratorin und Herausgeberin: Kat Menschik
Format: Gebunden, E-Book
Verlag: Galiani Verlag, Gebunden, 112 Seiten
VÖ: 04.09.2025
Volker Kutscher
Illustrierte Lieblingsbücher im Galiani Verlages
Kat Menschik

