Über mehrere Jahre lang hat die Filmmacherin Lilith Kugler in Berlin einen suchtkranken Obdachlosen begleitet. Die Doku „Hausnummer Null“ macht eine Parallelwelt sichtbar, von der die Gesellschaft immer wieder hört, aber in die kaum jemand tatsächlich hineinschaut. Drop-out Cinema bringt „Hausnummer Null“ ab dem 12 September 2024 in der Filmreihe #Politkino in die Lichtspielhäuser.
„Welcome to a Berlin Toilet“ sind die ersten verständlichen Worte, die dem Publikum aus den anfänglichen Dunkel verständlich entgegenschallen. Dan wird Licht und der Obdachlose Chris hat sich in die öffentliche Toilette zurückgezogen, um seiner Sucht zu genügen.
Das Filmteam ist mit dabei und fragt den Mann, der mal Laborassistent war, wie seine Traumreise denn aussehen würde? Chris hat ziemlich konkrete Vorstellungen von einem bürgerlichen Leben in gehobener Arbeitsposition und mit sozialer Absicherung. Doch hier und jetzt geht’s darum in der Bahn Geld zu Schnorren für das Notwendigste, das Überleben auf der Straße.
Dabei hat Chris zu Beginn des Films einen relativ festen Platz an der S-Bahn-Station Friedenau berlinauswärts Richtung Südwesten. Hier ist er seit Oktober, hier hängt auch sein Kumpel Alex rum und die Leute aus der Nachbarschaft gucken schon nach den beiden Obdachlosen.
Als der Winter kommt, hat Alex einen Platz in einem Wohnheim ergattert, doch Chris findet immer wieder Ausflüchte um nicht auch untergebracht zu werden. Ein engagierter Nachbar hat einen Schlafplatz in eine Einrichtung organisiert, nur Chris sträubt sich.
„Chris entzieht sich leider ein bisschen geschickt.“
Und dann kommt noch die Sucht dazu. Erstmals versucht der seit 2013 Heroinsüchtige es mit einem Substitutionsprogramm. Es scheint, dass Chris wieder stabiler wird. Das Filmteam begleitet ihn sogar über Weihnachten zu seiner Mutter aufs Land. Doch es gibt Rückfälle und es gibt erneute Bemühungen, den Obdachlosen wieder zu integrieren.
„Hausnummer Null“ ist ein ambitionierter, sozial engagierter Dokumentarfilm, der seinen Protagonisten von 2021 bis 2023 begleitet hat. Wer sich erinnert, bemerkt, dass das in etwas die Jahre der Corona-Pandemie und ihrer Nachwehen sind. So lässt sich im Filmverlauf auch die unterschiedlich ausgelegte und angeordnete Maskenpflicht nachvollziehen. Doch die Pandemie ist kein Thema in dieser Doku.
In der Parallelwelt der Obdachlosen gibt es wenig Möglichkeiten sich zu schützen und auch vordringlichere Probleme zu bewältigen. Tatsächlich gibt es Hilfsprogramme für Obdachlose, doch wie Alex erklärt, ist es für jemanden mit wenig Selbstvertrauen nicht eben einfach irgendwas in Anspruch zu nehmen. So will Chris wohl auch niemanden enttäuschen, mag aber auch nicht in der Unterkunft sein, und hat im ersten (filmisch begleiteten) Turnus in mehreren Monaten gerade einmal sieben Nächte dort verbracht.
Wieder nach Hause aufs Land ziehen? Hier ist nix.
Doch davon auszugehen, dass Chris keine Hilfe wolle, greift viel zu kurz. Der Mann, der im Filmverlauf auch erwähnt, dass er eine Tochter habe, ist schon zu lange durch das soziale Raster gefallen, lebt zu lange an den Rändern der Gesellschaft und in den öffentlichen Räumen, um sich auf Knopfdruck umzugewöhnen.
Das alles zeigt die Doku mit gelegentlichen Zwischenfragen, mit intimen Einblicken und respektvoller Distanz zu ihrem Protagonisten. Bisweilen gibt es filmische Impressionen, die die Lebewelt der Obdachlosen etwas allgemeiner bebildern und in einen gesellschaftlichen Kontext setzen. So etwa Stilleben von diversen Schlafsäcken, eine nächtlich verlassene Passage, den Eingang zur S-Bahn-Station im Wandel der Jahreszeiten und ähnliches. Das nimmt einerseits ein wenig der existentiellen Schwere, andererseits irritieren diese filmästhetischen Einschübe auch etwas.
„Noch ist es nicht vorbei.“
Zum mündigen Umgang mit dem Bildmaterial das „Hausnummer Null“ präsentiert gehört auch die legitime Frage nach der Glaubwürdigkeit. Auch und gerade, wenn das Filmteam mal eingreift (hier nachfragt) und über lange Zeiträume filmt, die ja nicht konstant dokumentiert werden können, ist es wichtig, dass kein übergeordnetes Narrativ als Leitmotiv herhält, sondern Ergebnisoffenheit herrscht. So hat das Direkt Cinema, so hat das Cinema verité seine Dokus auch weitgehend produziert. Diesem Geist und Gestus ist auch „Hausnummer Null“ verpflichtet. Weiterführende Infos zum Thema Obdachlosigkeit bieten die unter dem Text angegebenen Links.
„Hausnummer Null“ wurde von „Das Kleine Fernsehspiel“ im ZDF koproduziert und wird bei Drop-out Cinema in der Filmreihe #Politkino präsentiert (Ein Link findet sich unten). Es geht dem #Politkino explizit darum das das Publikum politisch aktiv wird und möglicherweise Filmclubs gründet und Diskussionen nicht nur anregt, sondern auch führt und den Diskurs über Gesellschaft auch in die Realität überführt. Auch die Doku „Wir sind so frei“ läuft in dieser Filmreihe.
Lilith Kuglers Film weiß zu berühren ohne pathetisch zu sein. Das Schicksal des Obdachlosen Chris steht auch exemplarisch für eine stetig größer werdende Zahl von Menschen, die auf der Straße leben. Es ist nicht immer leicht hinzusehen, wenn Menschen so exponiert sind, aber „Hausnummer Null“ schafft einen stimmigen Zugang zu dem Leben auf der Straße.
Hausnummer Null
OT: Hausnummer Null
Genre: Doku, Gesellschaft
Länge: 95 Minuten, D, 2024
Regie: Lilith Kugler
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Drop-our Cinema
Kinostart: 12.09.2024
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