Die Völkerkunde hat als Wissenschaft nicht gerade einen guten Ruf. Unter anderem weil die vermeintliche Wissenschaft auch gerne mal als Beleg für soliden Rassismus herangezogen wird. In Lars Kraumes historischem Drama „Der vermessene Mensch“ geht es um ein wenig ergründetes Kapitel deutscher Geschichte: Die Kolonialzeit und die damit verbundenen Verbrechen. Ab 23. März 2023 im Kino.
Im Jahr 1896 soll der junge und ambitionierte Berliner Ethnologe Alexander Hoffmann (Leonard Schleich) unbedingt verheiratet werden. Der Vater war ein bedeutender Ethnologe, der bei seinen Forschungsreisen ums Leben kam, die Mutter ist verarmt und enttäuscht von wenig beeindruckenden Karriere ihres Sprößlings.
Der wissenschaftliche Assistent von Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) wittert seine Karrierechance als im Zuge der Kolonialaustellung eine Abordnung der Nama- und Herero-Stämme aus Deutsch-Südwestafrika eingeladen werden. Die afrikanischen Eingeborenen werden den Studenten auch zu Forschungszwecken zugeteilt. Hoffmann legt Eigeninitiative an den Tag und interviewt die afrikanische Dolmetscherin Kezia (Girley Jazama) und die anderen Afrikaner über die Messungen hinaus.
Daraufhin entwickelt er eine These für seine Doktorarbeit, die der vorherrschenden Lehrmeinung in Sachen Rassentheorie widerspricht. Der Professor weist auf den unvorteilhaften Karrieremove hin, protegiert einen anderen Studenten als Dozenten und die Sache scheint erledigt. Zumal die Nama- und Herero auch wieder abgereist sind, nachdem sie eine Audienz beim Kaiser erhalten hatten.
Jeder Student bekommt ein eigenes Exemplar zur Erforschung
Jahre später erhält Hoffmann die Möglichkeit eine Forschungs-Expedition in die afrikanische Kolonie zu begleiten, die von seinem ehemaligen Rivalen geleitet wird. Doch vor Ort in Namibia wird Hoffmann vor allem Zeuge wie die rebellischen Stämme von der deutschen Armee bekämpft werden. Trotz seiner Desillusionierung forscht Hoffmann weiter, geht einen Handel mit einem korrupten Offizier ein und schickt stetig Forschungsmaterial an die Berliner Universität. Zumeist besteht dies aus Schädeln der toten Nama und Herero, die in Berlin vermessen werden sollen.
Mein Kopf ist verhältnismäßig klein. Ich käme aber auch nicht auf die Idee, dass dies in irgendeiner Weise meine Fähigkeit zu denken beeinflussen könnte. Solcherlei „wissenschaftliche“ Überlegungen waren auf dem Feld der vergleichenden Völkerkunde eine Zeit lang en vogue. Ebenso wie die Lehren von Charles Darwin, das „Survival oft he Fittest“ oft genug falsch verstanden und instrumentalisiert wurde, scheinen die Vermessungen von Menschen instrumentalisiert worden zu sein.
Die deutsche Kolonialgeschichte ist relativ kurz, geografisch sehr überschaubar und geschichtswissenschaftlich so wenig aufbereitet wie allgemein bekannt. Es gibt in diesem Zusammenhang zwei empfehlenswerte Romane, die auch immer wieder genannt werden. „Morenga“ von Uwe Timm (1978) und „Herero“ von Gerhard Seyfried (2003). Als Kaiser Wilhelm 1884 endlich in stolzer Großmannssucht auf die Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ blicken konnte, waren große Teile außereuropäischer Kontinente längst unter anderen Imperialmächten aufgeteilt.
Die Umstände formen den Menschen, nicht die Genetik
Später überschatteten der erste Weltkrieg und vor allem die Phase des Nationalsozialismus, die in den zweiten Weltkrieg mündete, die Aufarbeitung der Kolonialzeit. Dabei sind die Verbrechen im heutigen Namibia, die systematische Vernichtung der Nama und Herero durchaus als Genozid, als Völkermord, zu werten. Inklusive früher Internierungslager, die als präfaschistische Blaupause von Konzentrationslagern herhalten können.
In diesen historischen Rahmen verlegt Lars Kraumes („Der Staat gegen Fritz Bauer“) Drama eine persönliche Geschichte, die es dem Publikum ermöglicht, an den damaligen Ereignissen Anteil zu nehmen. Im Interview sagt der Regisseur, dass die Erzählhaltung des Films legitimer Weise nur aus der Täterperspektive erfolgen kann. Aber hier eine deutsche Heldenfigur zu etablieren, verbietet sich ob der Verbrechen.
So also ist Alexander Hoffmann die Person, an der sich das Publikum reiben muss. Der junge Forscher ist zwar guten Willens, letztlich aber zu macht- und kraftlos, gegen die Umstände zu kämpfen. Stattdessen legt Hoffmann naives Gutmenschentum an den Tag, das im Filmverlauf bis auf die Knochen erschüttert und ausgetrieben wird. Erstaunlich ist dabei auch der systemische Mangel an Empathie, der sich auch im Individuum wiederfindet. Als die Afrikaner den Forschern vorgestellt werden, beginnen diese ihre Messungen als würden sie Tiere untersuchen, was sie ja ihrer Einschätzung nach auch taten.
Hoffmann selbst fehlt es an Mitteln und Wegen anders vorzugehen. So hat seine Faszination für die deutschsprechende „Übersetzerin“ Kezia auch immer eine verklärende, sexuelle Ebene. Was der Deutsche für Freundschaft hält, ist für die Afrikanerin Mittel zum Zweck. So wie die Kolonialschau der einzige Weg war, dem Kaiser selbst zu bitten, in Deutsch-Südwestafrika anders zu herrschen.
Ausstellungstücke fürs Museum
Während der erste Teil des Films in Berlin spielt, verlagert sich die Handlung im zweiten Teil in die afrikanische Kolonie und wurde auch dort gedreht. Und dennoch wirken einige Aufnahmen, als wären sie bei den Karl-May-Festspielen in Bad Segeberg entstanden. Sicherlich ist das sowohl Inszenierungs- als auch Budgetfrage und tut letztlich wenig zur Sache. Es ist auf inhaltliche Weise desillusionierend den Wegen Hoffmanns zu folgen. Angetrieben wird er auch von der Suche nach Kezia, die er glaubt retten zu können oder zu müssen.
Hoffmann wird immer wieder nicht nur Zeuge von Tötungen und Grausamkeiten, sondern verstrickt sich auch immer weiter selbst. Im Namen der Forschung werden Leichen geschändet und Kultgegenstände entwendet. Gräber werden geöffnet und in den Lagern werden die Internierten gezwungen die Schädel auszukochen, damit diese in die Reichshauptstadt verschifft werden können. Als dann auch noch der Professor höchst selbst in Afrika auftaucht, ist er verstört von heruntergekommenen und unzivilisierten Zustand seines Forschungsassistenten. Und rät diesem das letzte Schiff nicht zu verpassen.
Sicherlich hat „Der vermessene Mensch“ so seine filmischen Problemzonen und ein größeres Budget hätte zu einem Leinwand füllenderen Look beigetragen, aber alleine die Tatsache, dass sich endlich ein Film mit dem deutschen Kolonialismus, der präfaschistischen Rassenlehre und dem Genozid im heutigen Namibia beschäftigt ist aller Ehren wert. Dabei so viel Publikum wie möglich anzusprechen ist notwendig, um eine breite öffentliche Auseinandersetzung zu erreichen. Etwas bieder, aber Mission erfüllt.
Film-Wertung: (7 / 10)
Der vermessene Mensch
OT: der vermessene Mensch
Genre: Drama, Historie
Länge: 116 Minuten, D, 2023
Regie: Lars Kraume
Darsteller:innen: Leonard Schleicher, Peter Simonischek, Girley Charlene Jazama
FSK: ab 12 Jahren
Vertrieb: Studiocanal
Kinostart: 23.03.2023