Endlich erfüllt sich für die Astronautin Sarah Loreau ein Kindheitstraum: Sie ist Teil der nächsten ISS-Mission und wird ins All fliegen. Doch je näher der Raketenstart rückt, desto drückender werden die Belastungen und die familiären Probleme. Autorenfilmerin Alice Winocour ist mit Eva Green in der Hauptrolle ein ruhiges und doch packendes und emotional dichtes Drama gelungen, das nun – verzögert durch die Corona-Pandemie – im Juni 2021 endlich in die Kinos kommt.
Nicht weniger als den Aufbruch zum Mars hat die französische Astronautin Sarah Loreau sich zum Ziel gesetzt. Die Teilnahme an der internationalen Mission zur ISS, die ein Jahr lang dauert, ist da ein wichtiger Schritt für die alleinerziehende Mutter.
Die Vorbereitungen gehen auf ein anderes Level und Sarah muss für die letzte Phase vor der Mission vom Raumfahrtzentrum in Köln zum Cosmodrome in Baikonur ziehen, von wo aus die Rakete in einigen Wochen starten wird. Ihre Tochter Stella wird für die Zeit der Mission bei ihrem Vater leben. Vater Thomas (Lars Eidinger) ist Wissenschaftler bei der Europäischen Raumfahrt-Behörde (ESA) und Stella muss die Schule wechseln. Als Verbindung der Astronautin zu ihrer Familie ist die Betreuerin Wendy Hauer (Sandra Hüller) eingesetzt.
Die Betreuerin erschreckt Stella beim Gespräch über die Arbeit ihrer Mutter und den bevorstehenden Abschied erst einmal ganz gehörig. Auch der amerikanische Astronaut Mike Shannon (Matt Dillon), gibt Sarah nicht gerade das Gefühl, ein gleichwertiges Crewmitglied zu sein. Sprüche, wie den, dass die Kollegin da oben auf der Raumstation bestimmt ihre französischen Kochkünste vorführen kann, hört keine berufstätige Frau gerne.
Im Ausbildungszentrum im Cosmodrome ist die Stimmung nicht nur wegen des bevorstehenden Starts angespannt, sondern auch, zur Abwechslung mal eine Frau zu den Astronauten gehört. Es scheint, als nähme man Sarah sehr genau unter die Lupe. Schlimmer jedoch ist für die Astronautin, dass ihre Tochter den Kontakt vermeidet. Auch platzt ein Familientreffen, weil Thomas und Stella den Flug verpassten.
„Du wusstest, dass deine Mutter eines Tages abreisen wird?“
Den Flug zu verpassen, ist das unausgesprochene Thema von „Proxima – Die Astronautin“. Obwohl es der ausgesprochene Lebenstraum von Sarah ist, ins All zu fliegen und sie ihre gesamte Karriere darauf hinarbeitet, scheint gerade jetzt, kurz bevor es losgehen soll, alles schief zu laufen. Sarah kommen Zweifel und ihre Umwelt scheint sich nicht gerade unterstützend zu verhalten. Thomas, der bereits an einer potentiellen Venus-Mission forscht, erklärt der gemeinsamen Tochter flapsig, er sei Stellas Mutter immer einen Planeten voraus.
Am zerbrechlichsten aber ist die Einheit von Mutter und Tochter, die trotz der Vorbereitungen und langjähriger Erklärungen das Kind nicht auf die Realität der Trennung vorbereiten kann, weil es immer auch eine abstrakte Wahrheit bleibt, bis es schließlich zum Abschied kommen muss.
Psychologisch beobachtet und schildert Filmmacherin Alice Winocourt („Mustang“) die Befindlichkleiten und Probleme der Astronautin, die so stellvertretend für alle arbeitenden und alleinerziehenden Mütter sind, sehr nuanciert und kann sich dabei ganz auf das großartige, subtile und zurückgenommene Spiel von Eva Green verlassen. Deren große Augen sind nicht nur ein Zugang zur Seele der Figur, sondern auch ein starkes Ausdrucksmittel auf der Leinwand.
Zuschauer:innen sollten jedoch nicht den Fehler machen „Proxima“ einzig als „Frauenfilm“ zu verstehen. Ebenso wie Damien Chazelles hochgelobtes Raumfahrtdrama „Aufbruch zum Mond“ („OT First Man“, 2018), den Alltag, die Person und die Normalität des Astronauten Neil Armstrong in den Mittelpunkt des Dramas stellt, so rückt auch „Proxima“ das Normale, das Reale in den Focus der Kamera. Das ist nicht glamourös, sondern besteht vor allem aus Handwerk, Zielstrebigkeit und Ausdauer. In diesem Aspekt ist das europäische „Proxima“ dem Hollywood-Ansatz von „First Moon“ sogar deutlich überlegen, weil die Protagonistin nicht den Rucksack der Mythologisierung mit sich herumschleppen muss.
Selbstredend ist „Proxima“ im Abspann all jenen Pionierinnen gewidmet, die bereits im All waren und ist auch eine Ermutigung für die kommenden Generationen Abenteuer-und forschungslustiger Frauen. Zwar bezieht sich „Proxima“ (Lateinisch für „die Nächste“) schlicht auf die kommende ISS-Mission, meint aber symbolisch auf jene Frauen, die noch kommen werden.
Tatsächlich lebt etwa die erste Hälfte des Dramas von der diffus ablehnenden Umwelt, die Astronautin Sarah erfährt, später verschiebt sich die Anspannung hin zu einer allgemeineren psychologischen Drucksituation, die vor allem den Zweifeln und Erwartungen geschuldet ist. In beiden Phasen ist die filmische Erzählhaltung – und zum Teil die Kamera – Sehr nah an der Hauptfigur, schafft es ihre Sichtweise einzunehmen. Isolationerfahrungen, Verlust- und Versagensängste, Zweifel an einer ungewissen Zukunft sind in einer solchen Situation allen beteiligten zu eigen. Das macht „Proxima“ so stark und so sehenswert. Selbst wenn einige Szenen etwas ausführlich ausgefallen sind.
In Frankreich hat der Film, der bereits 2019 vor der Corona-Pandemie fertiggestellt war und auch einigen Festivals lief, viel Zuspruch bekommen und wurde sogar neben „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ und „Die Wütenden“ als französischer Oscar-Beitrag gehandelt. Hierzulande war ein Kinostart eigentlich schon im letzten Jahr geplant. Doch „Proxima“ hat sein Momentum auf der Leinwand dadurch nicht verloren. Im Gegenteil: die Kinozeit nach den Lockdowns bekommt mit diesem starbesetzten Drama ein erstes Highlight. Die Szene, in der sich Mutter und Tochter durch eine Glasscheibe voneinander verabschieden müssen, spiegelt ungewollt auch die Lockdown-Situation vieler Menschen.
„Proxima“ ist ein großartig gespieltes realistisches Drama, dass zwar von einer Astronautin im Aufbruch handelt, letztlich aber sehr erdverbunden und naher an den Figuren bleibt. Es sind die ruhigen Töne und die kleinen Gesten, die dem Unausgesprochenen in „Proxima“ zu größer Intensität verhelfen. Absurderweise verstärkt die kollektive Erfahrung Pandemie-bedingten Lockdowns die Wirkung des Films, denn nun kann jede:r nachvollziehen, wie es ist, von seinen Lieben getrennt und isoliert zu sein.
Film-Wertung: (8 / 10)
Proxima – Die Astronautin
OT: Proxima
Genre: Drama
Länge: 106 Minuten, F/D, 2019
Regie: Alice Winocour
Darsteller:innen: Eva Green, Lars Eidinger, Matt Dillon, Zélie Boulant
FSK: ab 6 Jahren
Vertrieb: Koch Film, Neue Visionen
Kinostart: 24.06.2021