Top 5: Dokumentarfilme 2016

Nachdem die Golden Globes nun auch verteilt sind und die Filmpreissaison eröffnet ist, komme ich auch mal mit meinen persönlichen Filmhighlights des vergangenen Jahres rüber. Ich habe wieder etliche Zeit im Kinosaal verbracht, diverse Streams und Screener gesichtet und auch DVD-Premieren auf dem Sofa angeschaut. Insgesamt waren das über 300 neue Filme im Kalenderjahr 2016. Davon mehr als 10 % Dokumentarfilme. Und die Würdigung der Besten Dokumentarfilme 2016 bildet auch den Auftakt meiner Rückschau.

Das Genre Dokumentarfilm hat sich in den vergangenen Jahren ziemlich verändert und es gibt auch da unterschiedliche Filmschulen. Aber fassen wir hier, wie das allgemein üblich ist,  einfach mal alle Filme zusammen, die keine fiktionale Handlung aufweisen. Spielszenen um etwas nachzustellen sind bei Dokus allerdings ebenso gebräuchlich wie einige experimentelle Stilmittel. Die Spielregeln für die Top 5 sind klar: In Betracht gezogen wird nur, was im vergangenen Jahr im Kino, Heimkino oder TV erstmals veröffentlicht wurde. Festivals werden nicht berücksichtigt.

Die Bandbreite dessen, was 2016 an Dokus in die Kinos kam, reicht von dem biografischen Künstlerportrait wie „Eva Hesse“ und „Die Frau mit der Kamera“, über die Kunstdokus „Mapplethorpe – Look at the Pictures“ und „Hieronymus Bosch – Schöpfer des Teufels“ bis hin zu essayistischen Alltagsbeobachtungen wie „Tomorrow Is Always Too long“ oder hybriden Filmen wie „Land der Erleuchteten“ in denen das Dokumaterial zu einer Art fiktionalisierten Erzählung zusammengefügt wird. Und wie immer sind auch Auslassungen dabei, die zeitlich nicht mehr unterzubringen waren.

Dass die Musikfilme, die häufig auch dokumentarisch aufbereitet, als mein Steckenpferd gesondert aufgelistet werden, wissen Leser, die sich hier häufiger tummeln. Ich habe angesichts meiner durchaus streitbaren Doku-Top 5 auch überlegt, ob ich experimentellere Filme nicht gesondert aufführen soll, mich dann aber dagegen entschieden. Irgendwann  ist mit der Spezifizierung auch mal Schluss und weiter Aufschlüsselungen nach Kategorien werden zunehmend sinnentleert. Die meisten Zuschauer gucken bei Dokumentarfilmen sowieso nur darauf, ob sie das Thema interessiert. Aber auch in diesem Genre lassen sich Stilmittel unterscheiden und Arten der aufbereitung vergleichen. Als Zuschauer darf man sowieso schon lange nicht mehr einfach glauben, was die Bilder vermitteln. Also, skeptisch bleiben.

 Top 5 Dokumentarfilme 12016

5.  Tomorrow is Always Too Long

Der britische Medienkünstler Phil Collins lehrt an der Kölner Medienhochschule und ist nicht mit dem populären Sänger  verwandt. Für sein erastaunliches und essayistisches Filmprojekt war der Künstler ein Jahr lang in Glasgow unterwegs und hat beobachtet und gefilmt.  Die gesammelten Impressionen verdichten sich zu einer spannenden Collage aus Alltagsbeobchtung. Der Bilderbogen wird kunstvoll um sechs Songs der walisischen Sängerin Cate Le Bon herum arrangiert, die dem experimentellen Film einen Rahmen geben. Dazu kommen immer wieder scherenschnittartige Animationen des Künstlers Matthew Robbins und das Zappen durch fiktive Shopping-Kanäle und Reality-TV-Formate. Eingerahmt wird dieses absolut sehenswerte „Hundeleben“ vom Blick in die Augen eines Dalmatiners. Mit viel Groove komponiert der britische Medienkünstler Phil Collins so eine augenzwinkernde Symphonie über das Leben. Filmkunst zwischen Geburtsvorbereitung, Knast und Tanztee.  (GB, 2014, 86 Minuten, ab 12 Jahren, Rapid Eye Movies)
Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

4. Francofonia

Regisseur Alexander Sokurow („Faust“, 2011) hat sich schon einmal in dokumentarischer Weise einem weltberühmten Museum gewidmet: Der Eremitage in Sankt Petersburg („Russian Ark“, 2002). Nun steht der Pariser Louvre zu seinen im Zentrum seiner filmischen Kollage. Das dokumentarisch-experimentelles Loblied auf den Pariser Louvre vermisch Spielszenen munter mit vermeintlichem Archivmaterial und dem Arbeitsplatz des Regisseurs. Nachgestellt werden Szenen aus der Nazi-Besatzungszeit und auch die Gemäldefiguren erwachen in „Francofonia“ zum Leben. Ein sturmuntoster Schiffstransport von Kunstwerken, den der Regisseur  durch Internetaufnahmen verfolgt, wirkt dabei als eine Art Rahmenhandlung und verdeutlicht Sokurows Idee, die großen Museen dieser Welt seien Archen, in denen die Kultur vor dem Untergang bewahrt wird. Alexander Sokurows Filmessay ist eigenwillig, schräg und faszinierend und entwickelt sehr gelungene Betrachtungen über Zeit, Macht und Kunst. Sein experimenteller Ansatz bleibt bewusst fragmentarisch und entwickelt dabei viel Charme, Witz und Tiefgang. (F/D/NL, 2015, 84 Minuten ab 12 Jahren , Piffl)

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

3. Overgames

Ausgehend von einem zufälligen Talkshowschnipsel, den er im Internet findet, macht sich der deutsche Filmmacher Lutz Dammbeck auf eine Recherchereise die sich über fast ein Jahrzehnt erstreckt. Der ehemalige Showmaster Joachim Fuchsberger eröffnet, dass die Vorbilder seiner Shows in den USA  als Spiele für Psychiatriepatienten entwickelt wurden und attestiert Fernsehdeutschland damit seinerzeit „„Eine verrückte Nation! Eine psychisch gestörte Nation!“  gewesen zu sein. Über fast drei Stunden legt Overbeck nun seine Recherche offen, analysiert moderne Unterhaltungsmedien und koppelt das an einen Ideengeschichte der Freiheit. Ohne stilistische Experimente wird der Filmmacherselbst zum Protagonisten, zum Suchenden, zum Forschungsreisenden in Sachen Umerziehung und Medieneinsatz. Hier geht es zur ausführlichen Besprechung von „Overgames“. (D, 2015, 164 Minuten, ab 12 Jahren, Lutz Dammbeck Filmproduktionen, absolut Medien)

Film-Wertung: 8 out of 10 stars (8 / 10)

2. Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen

Es gab in den vergangenen Jahren haufenweise Dokus die sich mit unserem Lebensstil beschäftigt haben. Egal, ob es um Ernährung, Umweltzerstörung, Agrarindustrie alternative Lebensmodelle oder Energiewende geht, der Tonfall ist fast immer derselbe: Es ist fünf vor Zwölf, die Menschheit muss umsteuern. Völker seht den erhobenen Zeigefinger! Den Effekt solcher Filme kann man lange hinterfragen und unterstellen, dass sie sowieso nur ein schon sensibilisiertes Publikum finden. Nicht so „Tomorrow – Die Welt ist voller Lösungen“. Schauspielerin und Filmmacherin Mélanie Laurent und der Aktivisten Cyril Dion haben:  Keinen Bock auf „No Future“! Stattdessen  setzt die informative und klar strukturierte Doku „Tomorrow“ auf die positive Kraft des Mitmachens. Das Filmteam nimmt sich des komplexen Themenfeldes strukturiert und systematisch an und benennt fünf zentrale Bereiche, die für den Planeten und die Menschheit zum Problem geworden sind: Agrarkultur, Energie, Wirtschaft, Demokratie und Bildung. Dann geht es frisch ans Werk und auf die beschwingte  Suche nach Lösungsansätzen. Das mag naiv sein, macht aber Spaß und motiviert mit zupackender und positiver Herangehensweise. Ein Film der Kräfte freisetzt. Hier geht es zur ausführlichen Besprechung von „Tomorrow –  Die Welt ist voller Lösungen“. (F, 2015, 118 Minuten, ohne Altersbeschränkung, Pandora)

Film-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

1.    Heart of a Dog

Laurie Anderson an dieser Stelle noch ausführlich vorzustellen ist mehr als nur müßig. Die amerikanische Performancekünstlerin ist seit Jahrzehnten kaum aus der amerikanischen (Sub-)Kultur wegzudenken. Ihrem vielschichtigen Schaffen fügte Laurie Anderson nun noch einen essayistischen Film hinzu.  Vordergründig beschäftigt sich „Heart of a Dog“ tagebuchartig mit dem Tod ihres geliebten Hundes Lolabelle. Aber wie es sich für gute Essays geziemt, fließen die von Laurie Anderson aus dem Off vorgetragenen Gedanken schnell relativ frei und kreisen um die großen Themen Liebe, Leben, Tod und Verlust.  Das alles ist sehr persönlich und schlägt doch immer den Bogen zu Politik und Metaphysik. Formal fügen sich die Hundeaufnahmen, animierten Sequenzen, die Musik und die Erzählung unglaublich organisch zu einem reflektiert schillernden Ganzen. Meine Lieblingsszene ist jene, in der der kleine Stadtterrier auf dem Land einen rüttelnden Raubvogel entdeckt und sich zum ersten Mal bewusst wird, dass auch Terrier Beutetiere sein könnten. Im Kino hätte ich trotzdem konstant heulen können. Emotional enorm bereichert dauerte es eine Weile bis die Traurigkeit verlogen ist.(USA, 2015, 76 Minuten, ab 6 Jahren, Arsenal, Indigo)

Film-Wertung: 9 out of 10 stars (9 / 10)

Soviel also zu meinen favorisierten Dokumentarfilmen 2016. Weiter geht es demnächst mit den Top 5: Musikfilme 2016.